Twilights zweite Chance
Kapitel 1: Der Deal
Weiß.
Unendliches Weiß.
Rings um sie herum befand sich - nichts. Nur leeres, strahlendes Weiß von einer Helligkeit, wie sie sie nie zuvor gesehen hatte, ein Weiß, das keinen Anfang und kein Ende zu haben schien. Verwirrt blickte Twilight sich um. Sie wusste nicht, wo sie sich befand. Noch vor einem Moment war sie noch im Thronsaal in Canterlot gewesen, bei den Feierlichkeiten zum ersten Jahrestag ihrer Übernahme der Regentschaft über Equestria - jedenfalls nahm sie an, dass es erst einen Moment her war, denn das endlose Weiß um sie herum löschte auch jedes Zeitgefühl in ihr aus. Zeit schien hier ebenfalls keine Bedeutung zu haben. Um sie herum war nur diese weiße Helligkeit, keine anderen Ponys, keine Türen, keine Fenster oder sonst irgend etwas.
Aber das stimmte nicht. Aus der hellen Leere vor ihr begann sich eine Gestalt herauszukristallisieren, erst kaum wahrnehmbar wie ein Schemen im Nebel, dann aber rasch stofflicher werdend. War all das bisher lediglich verwirrend, wurde es nun eindeutig unangenehm, und ein Schauer, von dem sie sich selbst einredete, dass es Ärger und nicht Furcht war, durchfuhr sie. Twilight kannte diese Gestalt - nur zu gut, und sie wusste (oder glaubte wenigstens zu wissen), wozu diese fähig und imstande war.
“Hallo, mein Fohlen”, sprach die schwebende Erscheinung. “Es ist Zeit.”
Entnervt verdrehte das Alihorn die Augen. Vor ihr schwebte Discord, der Herrscher des ewigen Chaos.
“Discord, wohin hast du mich hierher gebracht? Ich habe sehr viel zu tun und absolut keine Zeit für deinen Unfug!”
Das Drachenpony kicherte amüsiert und und tätschelte Twilight den Kopf, etwa in der Art, in der ein gutmütiger Onkel ein Kleinkind tätscheln mochte. Die Geste trug nicht dazu bei, Twilights aufkommenden Ärger zu besänftigen.
“Ach, meine naive kleine Twilight." Seine Stimme klang fast nach echtem Bedauern - aber nur fast. "Ich fürchte, ich habe schlechte Nachrichten.” Er legte eine Klaue auf ihre Schulter. “Twilight, ich rede nicht weiter drumrum: du bist tot.”
Das Alihorn konnte spüren, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich und sie blaß wurde. Sie sollte tot sein? Aber das war doch nicht möglich... woher... was hätte dazu führen sollen... Tausend Gedanken rasten ihr durch den Kopf, die damit begannen, warum sie so plötzlich aus dem Leben geschieden sein sollte - war es ein Unfall beim Dekorieren des Thronsaals gewesen? Oder ein bisher unentdecktes gesundheitliches Problem ihres Körpers? Konnte ein Alihorn überhaupt so plötzlich sterben? Ihre weiteren Gedanken galten ihren Freundinnen, all den Ponys und anderen Kreaturen, denen sie sich verbunden fühlte, und glitten weiter dahin, wer nun über die Geschicke Equestrias wachen sollte. Noch während sie versuchte, die Botschaft zu verarbeiten, drang ein Lachen an ihre Ohren.
“Oh Twilight, nun mach doch nicht so ein Gesicht! Du müsstest dich gerade eben mal selber sehen, offenbar habe ich dich voll erwischt!”
Abrupt änderte sich ihre Stimmung. Erneut spürte sie die Reaktion ihres Körpers, nur war es diesmal vor allem Wut, Wut darüber, dass sich das Drachenpony einen derart geschmacklosen Scherz mit ihr erlaubte - oder überhaupt mit irgendeinem Pony. Twilight klatschte mit ihrem Huf an ihren Kopf.
“Discord, das ist nicht lustig!” schrie sie ihn an. "Mit so etwas treibt man keine Scherze!"
Das Chaoswesen wedelte mit der Hand, als würde er ein lästiges Insekt verscheuchen. "Jaja. Immer ganz die Moralische, wie konnte ich das nur vergessen. Natürlich hast du recht, ich entschuldige mich für meine Geschmacklosigkeit, es wird nicht wieder vorkommen." Discords Stimme troff vor Sarkasmus. "Aber vielleicht hörst du mir zur Abwechslung erst mal zu, danach kannst du immer noch meckern.”
“Als ob ich überhaupt eine Wahl hätte. Dann fasse dich aber wenigstens kurz.”
“Ich habe dich das Jahr über beobachtet, was nun so überraschend nicht sein dürfte. Und, wie soll ich sagen, auf mich wirktest du ziemlich unzufrieden.”
Um seine Worte zu unterstreichen, schnipste Discord mit den Fingern. Vor Twilights Augen erschien in dem weißen Nichts etwas, das wohl am ehesten eine Art magisches Fenster sein mochte und in welchem Twilight sich selber sah, aus derselben Perspektive, aus der Discord sie offensichtlich beoabchtet hatte. Sie sah sich am Schreibtisch sitzen, vor sich endlose Berge von Papierkram, und sah ihr frustriertes Gesicht, und sie erinnerte sich an die Stunden, die sich zu Ewigkeiten dehnten, die sie damit verbracht hatte, diese ganze Verwaltung zu erledigen und sich dabei zu fragen, wie um alles in der Welt ihre alte Mentorin und Amtsvorgängerin Celestia das über Jahrhunderte hinweg geschafft haben mochte und dabei nach außen hin dennoch stets den Eindruck von Freundlichkeit und Ausgeglichenheit vermittelt hatte. Das Bild wechselte. Auch daran erinnerte sie sich: eine Friedenskonferenz. Drachen und Greife waren aneinandergeraten, es ging um Flugrechte und irgendwelche felsigen Einöden, die wohl nur diese beiden Spezies attraktiv finden konnten und auf die sie nun dummerweise beide Anspruch erhoben - und beide Völker waren, vorsichtig ausgedrückt, nicht für ihre Friedfertigkeit bekannt. Dummerweise hätte ein Krieg zwischen ihnen, der sich ob der Unnachgiebigkeit der direkten Verhandlungen anbahnte, auch Auswirkungen auf Ponys allgemein und das gemeinsame Nachbarland Equestria im Besonderen gehabt, ganz davon abgesehen, daß es schon gemäß ihres Titels als Prinzessin der Freundschaft Twilights naturgegebene Aufgabe war, einen solchen Konflikt zu befrieden. Das war schlußendlich auch gelungen, aber die Verhandlungen waren unfaßbar langatmig gewesen, sie durfte sich ihre Frustration nicht anmerken lassen, konnte sich aber der Etikette wegen, auf die vor allem Drachengräfin Ember achtete wie keine Zweite, auch nicht vertreten lassen. Dann folgten wechselnde Bilder: Bälle, Eröffnungen irgendwelcher Kunstgalerien, öffentliche Termine. Sicher, sie hatte einige dieser Verpflichtungen an Rarity delegieren können, die solche Ereignisse geradezu liebte, während Twilight sie nur mit großem inneren Widerstand über sich ergehen ließ - aber als Regentin konnte sie auch nicht alle dieser Termine an andere Ponys übergeben, sondern musste sie wohl oder übel selbst wahrnehmen und dabei noch, wie es von ihr erwartet wurde, nach außen hin das stets freundliche Grüß-und-Wink-Pony spielen. Sie wandte sich ab und sah Discord an. Die Aufzeichnungen hinter ihr verschwanden wieder im allgegenwärtigen Weiß, ohne dass sie es bemerkte.
“Ich habe dich hierher gebracht, weil ich dir ein Angebot machen will.” Das Drachenpony brauchte entweder keine ausgesprochene Aufforderung ihrerseits, sein Anliegen vorzutragen, oder, was wahrscheinlicher war, Discord hielt sich nicht mit Unwichtigkeiten wie solchen Formalitäten auf. Twilights Ohren richteten sich gespannt auf, und natürlich deutete das Chaoswesen diese unbewusste Geste richtig. “Ich dachte mir, du brauchst einen kleinen Urlaub von dem ganzen Prinzessinnen-Kram. Einfach mal wieder du selbst sein, das Pony Twilight Sparkle, nicht die offizielle Prinzessin. Na, wie hört sich das an?”
Twilight überlegte. Sicher, die Idee fand sie irgendwie verlockend. Aber Discord, der ihr einfach so ein Geschenk machte? Das passte nicht zu ihm, dachte sie. Bei all ihren bisherigen Begegnungen hatte er stets mit Tricks gespielt, und so blieb sie vorerst skeptisch.
“Wie genau hast du vor, das zu erreichen? Willst du mir etwa die Flügel wegnehmen?”
Die Chaoskreatur verdrehte die Augen.
“Hältst du mich tatsächlich für so einfallslos? Tsk-tsk-tsk. Warum nur weiß nie jemand meine Genialität und meine Möglichkeiten zu schätzen. Nein", sprach er direkt weiter, als er sah, wie das Alihorn zu einer Entgegnung ansetzte, "ich schicke dich zurück in die Vergangenheit. In die Zeit, bevor du zum Element der Magie und damit zu Celestias Mädchen für alles wurdest.”
Twilight zuckte zusammen. "Warte... halt, warte mal." Der Schreck, als ihr die Konsequenzen des Vorschlags zu Bewusstsein kamen, durchfuhr sie wie ein Blitz. “Eine Zeitreise? Das ist viel zu gefährlich. Wenn ich die Vergangenheit ändere, könnte das schreckliche Folgen haben. Glaub mir, ich habe das alles schon einmal erlebt.”
“Damals, als Starlight Glimmer dachte, in der Vergangenheit herumpfuschen zu müssen, ich weiß." Discords Stimme klang gelangweilt, so, als würde er nur mit Mühe ein Gähnen unterdrücken. "Warum nur unterschätzt du mich schon wieder. Eigentlich solltest du nach all den Jahren, in denen wir uns jetzt kennen, doch wissen, dass mir kein derart popelig-primitiver Zeitreise-Hokuspokus á la Starlight Glimmer vorschwebt, mit so etwas halte ich mich doch nicht auf. Nein, ich erschaffe eine Art Paralleluniversum. Nichts, was du tust hat Relevanz für deine Zeitlinie. Vertrau mir, ich habe das schon hundertmal gemacht - mindestes.”
“Wirklich?”
Discord begann zu grinsen. “Aber ja doch. In einer Realität zum Beispiel bin ich immer noch ein Schurke. In einer anderen habe ich einen Krieg gegen die Zebras verursacht, der in der totalen Vernichtung endete - das Chaos, das dabei entstand, war einfach zu wundervoll. Oh, oder die Realittät in der Pinkie einen Bruder hat... naja, und noch viele weitere.”
“Das klingt ja furchtbar!" Twilight musste ihre Erschütterung nicht spielen. Entsetzt trat sie einige Schritte von dem unbegreiflichen Wesen zurück - oder wenigstens versuchte sie es, aber natürlich funktionierte das in der weißen Leere um sie herum nicht. "Und jetzt soll ich mit dir noch so eine Realität erschaffen?”
Discord zuckte gleichmütig mit den Schultern, als ginge ihn das alles nichts an. “Ich dachte, du als wissenschaftliches Pony wärst von Natur aus neugierig und immer auf der Suche nach dem Was-wäre-wenn. Aber wenn du unbedingt willst, bitte, auch recht - dann vereinbaren wir eben einige Einschränkungen.”
Offenbar hatte das Drachenpony mit dieser Argumentation die richtigen Seiten von Twilights Persönlichkeit angesprochen. Diese konnte spüren, wie sich ihr Forscherinstinkt, der seit Monaten ohne neue Nahrung in einer Ecke ihres Geistes dahinvegetiert hatte, nun mit Macht zurückmeldete, und auch in ihrer Körpersprache konnte sie ihre wiedergefundene Neugier nicht leugnen. “Ich gebe zu, eine Sache hätte ich gerne anders gemacht. Seit ich Equestria regiere, weiß ich, wie kostbar Zeit für eine selbst sein kann. Ich wäre gerne noch einmal Celestias Schülerin, damit ich mich auch mal anderen Dingen als meine Studien widmen kann. Also gut, ich willige ein unter folgender Bedingung. Erstens, du bleibst immer in der Nähe, damit ich dich rufen kann.”
Discords Augen leuchteten begeistert auf. “Oh, da mach dir nur keine Sorgen. Diese Show lass ich mir auf keinen Fall entgehen.”
Twilight überlegte weiter.
“ Fein. Zweitens, nichts, was wir machen, darf einen negativen Einfluss auf andere haben. Alles soll sich zum Guten entwickeln.”
"Wie langweilig, aber wenn es denn unbedingt sein muss." Discords Blick verriet seine Enttäuschung über diese Bedingung. "Hauptsache, wir werden uns einig. Also haben wir einen Deal?” Discord hielt ihr seine Klaue zum Einschlagen hin. Für einen winzigen Moment erschien in seinen Augen ein hintergründiges Funkeln, und hätte Twilight sich mit der Körpersprache eines Drachenponys ein wenig besser ausgekannt und bewusst auf die winzigen Veränderungen, die fast nicht merkbaren Muskelanspannungen und das Straffen seines Schwanzes oder das nervöse Zucken seines Hufs geachtet, wären ihr diese unbewussten Äußerungen vielleicht sogar aufgefallen. So aber verging der Moment, Discord hatte sich selbst wieder völlig im Griff und sah Twilight einfach nur fragend an.
Zögerlich reichte Twilight ihm einen Huf. Das Abkommen inmitten der weißen Leere war besiegelt.