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30.04.2024, 21:22



"Freihandelsabkommen" TTIP
02.11.2016
Mc Timsy Offline
Wonderbolt
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Beiträge: 2.316
Registriert seit: 01. Jul 2013

RE: "Freihandelsabkommen" TTIP
@Beaumaris

Hmm, ich hätte mich hier wohl heute nichtmehr blicken lassen sollen. Eigentlich habe ich zu tun, aber auf deinen Text möchte ich dann doch noch eingehen.

Beaumaris schrieb:So ein von der EU-Institution durchgebrachter Vertrag ist einfach im Prinzip schon Demokratie-feindlich.

Also, an dieser Stelle finde ich den Gedanken ein wenig zu kurz gegriffen. Die EU Institutionen haben den Vertrag im Auftrag der Nationalstaaten ausgehandelt. Deren Regierungen sind, direkt oder indirekt, demokratisch legitimiert. Feststellbar ist, dass innerhalb supranationaler Organisationen die Macht der Regierungen gegenüber den Parlamenten anwächst. Ein klares Problem, aber den gesamten Prozess grundsätzlich als "demokratiefeindlich" abzutun halte ich für etwas zu schweres Geschütz.
Die EU kann in diesem Prozess so oder so nichts ohne die Zustimmung der Mitgliedsstaaten durchbringen. Da jetzt noch jedes heimische Parlament zustimmen muss und sogar einige Regionalparlamente, wird das vermeintliche "Demokratielevel" auf ein Maß angehoben, bei dem wir der repräsentativen Demokratie und der Beamtenschaft grundsätzlich anfangen jegliche Legitimation abzusprechen.


Zitat:So werden der Demokratie und der Regierung Fesseln von der vorherigen Regierung angelegt. Es kann doch nicht der Sinn der Sache sein, die Autonomie der Regierung irreversibel zu schwächen.

Ich wusste nicht, dass du ein Fan der Westminster-Verfassungslehre bist. Im britischen System ist ein Parlament tatsächlich nicht in der Lage seine Nachfolger einzubinden. Jedes Parlament soll permanent die volle Souveränität behalten. Aber dies ist eine Verfassungstradition die relativ exklusiv für die Inseln gilt. Im deutschen System besteht weder eine Verpflichtung dazu, noch haben wir hier so brilliante Erfahrungen damit gemacht, wenn Parlamentsmehrheiten ohne Bindungen ihre Entscheidungen treffen können.
Das Konzept, dass eine Regierung nicht ohne Not ein Abkommen aufkündigen kann ist gerade Sinn der Sache. Dieses Vorgehen ist nicht neu und bereits vorher in mehreren Verträgen angewandt worden. Selbst wenn wir annehmen, dass es am Ende tatsächlich zur negativen Auswirkungen kommt, die klar die Vorteile überwiegen. Was genau ist dein Problem damit den Vertrag in einem solchen Falle dann "illegitim" aufzukündigen? Es ist nicht gerade zu erwarten, dass in einem solchen Falle mit militärischer Intervention von unseren Nachbarn zu rechnen wäre. Ich gehe gerade ganz bewusst in diese Richtung, weil mich die Antwort interessiert, weniger weil das meine volle Position ist.


Zitat:Zudem was ist denn der generelle Sinn von solchen Abkommen? Das Aushebeln und Umgehen geltener Gesetze, um den Einfluss von einigen Großkonzernen zu verstärken.

Da muss ich widersprechen. Es stimmt sicher, dass einige der diskutierten Aspekte auch Auswirkungen in den gesetzlichen Bereich haben können. Aber letztlich handelt es sich bei Freihandelsabkommen um eine hauptsächlich administrative Tätigkeit. Grob gesagt: Das Gesetz legt fest, dass die Regierung Zölle erheben und Standards festlegen darf. Da spricht erstmal nichts dagegen, dass man sich mit einem auswärtigen Partner auf gemeinsame Regeln einigt, Quoten und Tarife abspricht. Man kann darüber streiten in wie weit die einzelstaatliche Gesetzgebungskompetenz jetzt tatsächlich betroffen ist. Aber Europa hat sich dazu entschieden den in jedem Fall umständlicheren Weg durch alle Parlamente zu gehen. Ergo, sollte Ceta zustandekommen, dann hätten wir am Ende die Zustimmung aller gewählten Volksvertreter, der Regierungen, zwangsweise auch früher oder später des ein oder anderen Verfassungsgerichtes und die Sache wäre darüber hinaus noch vom europäischen Parlament abgesegnet. Noch einmal stellt sich mir die Frage, wieso dieser Prozess grundsätzlich demokratiefeindlich sein soll. Anstatt nur ein Abkommen zwischen Kanada und Deutschland auszuhandeln, was dann eben von den Regierungsministerien ausgehandelt wird und nur durch Bundestag und -rat durchmüsste, haben wir jede Menge zusätzliche Akteure die dabei noch eine Rolle spielen und die alle mehr oder weniger direkte Legitimation besitzen.

Zitat:Was denkst du, wenn man denen Vorschlagen würden, das mit einer Volksabstimmung zu entscheiden?

Ok, zugegeben, ich reagiere schon seit längerem allergisch auf die Forderung nach Volksentscheiden. Die sind zwar der Traum von Populisten und Radikaldemokraten auf der ganzen Welt, sind aber letztlich mehr Schein als Sein. Ich gehe sogar soweit und sage, dass Volksentscheide in vielen Fällen weniger demokratisch sind, als die Entscheidungen von Parlamentariern oder gewählten Regierungschefs. Aber lassen wir die Demokratietheorie ein bisschen beiseite. Du hast selbst gesschrieben, dass die Stimmung bereits derart gegen Ceta gewendet ist, dass der Inhalt mittlerweile völlig egal sei. Da stimme ich dir zu, für mich entwertet es das Argument mit direkten Volksabstimmungen allerdings völlig. Denn offensichtlich wird die Entscheidung nicht durch logische Debatten über Vor- und Nachteile beeinflusst, sondern hauptsächlich von emotionaler Reaktion, Furcht und Vorurteilen. Siehst du das als demokratietheoretisch tragfähige Grundlage für die Entscheidungsfindung eines Staates?

Zitat:Man merkt, dass die EU-Politik bereits so Volks-verdrossen ist, dass man kaum versucht ist, das ganze noch glaubwürdig zu verkaufen.

Volks-verdrossen ist hier aber sehr mit Vorsicht zu vergeben. Die EU sieht sich vielfachen Krisen gegenüber und kämpft derzeit um ihre Glaubwürdigkeit als Akteur. Angetrieben von populistischen Kräften haben die Regierungen in den letzten Jahren auch oft gezielt gemeinsame Lösungen boykottiert und die Handelspolitik ist eines der letzten großen Felder, wo die EU, zumindest theoretisch noch beweisen kann, dass sie ihren Mitgliedern von Nutzen ist.
Wenn die EU zur weiteren Aushandlung von Freihandelsabkommen nicht in der Lage ist, dann werden die Staaten den zweiten Weg gehen müssen und bilaterale Abkommen auszuhandeln haben. Da führt kein Weg dran vorbei, wenn wir im kommenden Jahrhundert unsere Wirtschaftskraft erhalten wollen und unsere politische Relevanz damit soweit wie möglich rüberretten möchten.
Eine engere Bindung an die Verbündeten in Nordamerika ist ein logischer Schritt, denn diese Verhandlungen finden in beiden Fällen auf relativ hohen Grundlagen statt. Darüber hinaus ist ein gemeinsames Vorgehen logisch und erstrebenswert, denn unsere Verhandlungsposition steigt mit dem Versprechen den größten Binnenmarkt der Welt liefern zu können. Alleine wird keiner dieser Staaten die Gegenseite auch nur annähernd zu derartigen Zugeständnissen bringen. Bilaterale Verträge wären allerdings noch immer besser als nichts, denn die anderen Wirtschaftsblöcke da draußen sind eifrig dabei ihre Einflusszonen zu definieren und Claims abzustecken. Wenn Europa da nicht mitmachen kann, dann ist dies im Grunde das wirtschaftspolitische Equivalent davon sich in die Ecke zu legen und auf den eigenen Tod zu warten. Hinzu kommen sicherheitspolitische Anliegen, wenn die Amerikaner sich noch weiter von unserem Kontinent zurückziehen und wir ohne Freihandelsabkommen auch nicht so einfach auf die nordamerikanischen Energieressourcen zugreifen können. Das Ziel einer größeren Energieunabhängigkeit von Russland, oder auch eines Energietransfers, weg von Kohle, hin zu Erneuerbaren und Erdgas wird definitiv nicht einfacher, oder billiger zu haben sein, wenn wir den vollen Preis für nordamerikanische Lieferungen bezahlen müssen und die mangelnden eigenen sicherheitspolitischen Kapazitäten Europas uns keine verlässlichen Quellen aus Afrika organisieren können. Die Pläne diese Ressourcen statt aus Russland aus Zentralasien zu beziehen sind durch das Abdriften der Türkei in die Diktatur ohnehin schon erschwert und Asien braucht seine Energie selber.

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02.11.2016
mowny Offline
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RE: "Freihandelsabkommen" TTIP
(28.10.2016)Herr Dufte schrieb:  Du verlinkst einen Blog, welcher einen Artikel verlinkt, welches die Privatisierung von Wasser bei CETA bemängelt, aber gleichzeitig richtig festellt, dass CETA ausdrücklich sagt dass öffentliche Güter (Sozialleistungen, Wasser etc) NICHT von CETA beeinfluss werden dürfen?
Also der genaue Wortlaut bei Wasser, weil der Vertrag übrigends 100% öffentlich einsehbar ist.
Spoiler (Öffnen)

§1.9.1 schränkt die Anwendbarkeit nur für Wasser, das sich noch innerhalb seiner natürlichen Vorkommen befindet, auf §22 und §24 ein, §1.9.2 verpflichtet nicht zur Erlaubnis einer neuen Nutzung, aber §1.9.3 bestimmt ausdrücklich, daß die Bestimmungen des Abkommens gelten, wenn so eine kommerzielle Nutzung erst einmal erlaubt ist. Daß da ein "kommerziell" steht, trifft all die Wasserbetriebe, die keine Anstalten des öffentlichen Rechts sind. Hätte man die Wasserversorgung ausdrücklich ausnehmen wollen, hätte man diese mit in §1.9.1 aufgeführt.

Zitat:Außerdem geht es hier um CETA und nicht um ähnliche Verträge.
Ich wette, dass 99,9% der Demonstranten, der "Wutbürger" und was weiß ich, sich nicht mal die Mühe gemacht haben CETA überhaupt zu lesen. Der Großteil weiß vermutlich nicht mal was sie überhaupt bemängeln.

Ich wette dagegen, daß 99% derer, die in EU-Gremien letztlich darüber abstimmen, CETA auch nicht vollständig gelesen haben.

Zitat:Achja nochwas zu den Gerichten:
Warum zur Hölle, sollte die EU einen Vertrag abschließen, welcher dutzende Klagen in Milliardenhöhe zur Folge hätte? Zumal die EU ganz eindeutig der stärkere Verhandlungspartner ist.

Es gibt keinen Grund für die EU, aber sehr wohl die Frage, ob die beteiligten Personen im Interesse der EU handeln oder sich für Beraterpöstchen empfehlen wollen. Die fortwährende Abwanderung von Politikern in gerade den Wirtschaftszweig den sie vorher regulieren sollten riecht ja schon etwas aromatisch.

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03.11.2016
Beaumaris Offline
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RE: "Freihandelsabkommen" TTIP
(02.11.2016)Mc Timsy schrieb:  Hmm, ich hätte mich hier wohl heute nichtmehr blicken lassen sollen. Eigentlich habe ich zu tun, aber auf deinen Text möchte ich dann doch noch eingehen.

Ich dachte mir, dass du davon getriggert wirst. Tongue

(02.11.2016)Mc Timsy schrieb:  
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Letztlich ist es doch ein Entdemokratisierungsprozess. Wenn ich weitere Hierarchien erschaffe, auf denen tiefer liegende keinen merklichen Einfluss mehr haben können, dann sperrt man die tieferen Hierarchien von Entscheidungsprozessen aus und/oder erschwert es ihnen: Dort werden Aufgaben der Regierung outgesourct und damit aus der Hand gegeben. Der Maßstab ist doch ganz eindeutig: Je geringer die direkte Einflussnahme der Bevölkerung auf die Gesetzgebung, desto undemokratischer ist sie. Und als Konsequenz findet auch noch eine Entfremdung der Bevölkerung von der Politik statt.

Das nächste ist der Konsens-Zwang. Man hat es ja in dem Fall von Wallonien vor kurzem erst gesehen. Was für die eine Region wünschenswert ist, muss es für die andere nicht zwangsläufig sein. Die Idee, einen Vertrag für mehrere Regierungen gleichzeitig auszuhandeln, die jedem ein Optimum an Vorteilen bringt, ist ein Prokrustesbett.


(02.11.2016)Mc Timsy schrieb:  
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Mal ganz Allgemein: Es ist m.M.n. ein inhärentes Gut, sich die Freiheit in einem Entscheidungsprozess nicht a priori einschränken zu lassen. Der extreme umgekehrte Fall wäre eine Politik die nur noch auf Sachzwänge hin reagieren kann und damit letztlich in der postdemokratischen "Alternativlosigkeit" angekommen ist. Letztlich wird die Problemlösungsfunktion einer Regierung einfach behindert. Ich sehe es eher so, dass ich die Sinnhaftigkeit der umgekerhten Doktrin in Frage stelle.

(02.11.2016)Mc Timsy schrieb:  
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Siehe oben.


(02.11.2016)Mc Timsy schrieb:  
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Dein Kommentar dazu ist eher Populistisch, weil er leider Ursache und Wirkung verwechselt. Da die Bevölkerung von jeglicher dirkter Einflussnahme völlig ausgeschlossen ist, gibt es Politikverdrossenheit. Alle größeren EU-Projekte stoßen zwangsläufig auf großen Gegenwind in der Bevölkerung, da darauf keine dirkete demokratische Einflussnahme vorgesehen ist. Wenn CETA so inhärent wünschenswert ist, wieso gibt es denn solche Schwierigkeiten, es der Bevölkerung schmackhaft zu machen? Entweder sind deren Argumente einfach schlecht oder die Institiutionen scheren sich nicht darum, sich zu rechtfertigen. Das genaue Gegenteil wäre der Fall, wenn es eine Volksabstimmung dazu gegeben hätte. Wenn ich eine Stimme habe, dann kann ich mich mit Pro- und Contra-Argumenten auseinandersetzen und meine Meinung bilden. Habe ich keine Stimme in einem Vorgang, sehe ich keinen Grund, wieso ich nicht dagegen Protestieren sollte. Ich denke die Fabel von den Trauben und dem Fuchs ist dir bekannt? Die Doktrin, dass es Repräsentaten braucht, die ihre Aufgaben an Repräsentaten an einer höhren Instanz weitergeben, damit die untere Instanz einfach kurz Daumen hoch macht, damit auch alles Einstimmig bleibt, sollte sich erst einmal rechtfertigen.

Und wenn das Abkommen dermaßen für alle Akteure einleuchtend ist, dann muss es doch sauer aufstoßen, wenn man eine schweigende Mehrheit in der Bevölkerung hat, die dagegen ist? Es gibt dann eigentlich nur noch zwei Möglichkeiten: Entweder die Bevölkerung ist fast vollständig dumm oder was ich eher zutreffend finde, dass hier berechtigte Kritik vorgetragen wird, die sich nicht nur auf das Was, sondern vorallem auch auf das Wie bezieht.

Politik im Allgemeinen ist jetzt m.M.n. nichts, was den Intellekt eines 15-jährigen großartig übersteigt. Ich wüsste nicht, wie man es rechtfertigen könnte, in diesem Prozess keine dirketen demokratischen Elemente einzubeziehen. Die diffusen Ängste, dass die Bevölkerung schlechtere Entscheidungen treffen könnte als der Berufspolitiker unter Koaltions- und Fraktionszwang, sind genauso fundiert wie die Ängste eines Populisten, also quasi ohne Substanz. Desweiteren ist der Vorwurf direkte Demokratie würde zwangsläufig Populisten in die Hände spielen, völlig aus der Luft gegriffen. Dieses Dammbruchargument ist einfach Unsinn. Das ist allein schon am Beispiel der Schweiz empirisch widerlegt. "Radikaldemokraten" ist zudem ein Kampfbegriff für die m.M.n. völlig gesunde Ansicht, dass man nur in Ausnahmefällen (e.g. praktische Erwägungen) seine Autonomie an einen Repräsentaten abtreten sollte.

(02.11.2016)Mc Timsy schrieb:  
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Gehe mal tiefer auf sicherheitspolitische Angelegenheiten ein. Mich würde interessieren was da kommt.  FS grins

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03.11.2016
Mc Timsy Offline
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RE: "Freihandelsabkommen" TTIP
Beaumaris schrieb:Je geringer die direkte Einflussnahme der Bevölkerung auf die Gesetzgebung, desto undemokratischer ist sie.

Dem Maßstab widerspreche ich, gerade mit Blick auf Länder wie die Schweiz oder Californien mit einer starken direktdemokratischen Tradition. Direkte Demokratie führt in der Mehrheit der Fälle zu geringeren Beteiligungsquoten als die Repräsentantenwahlen und im allgemeinen setzen sich die Ansichten von besser ausgestatteten Minderheiten durch. Jetzt kann man natürlich sagen, dass die Ansichten von Minderheiten auch in repräsentativen System durchkommen, aber in einem System mit Konsenszwängen müssen letztlich die Mehrheiten der Repräsentaten berücksichtigt werden, die sich wiederum ihrerseits auf Mehrheiten stützen können. Wenn das Anliegen einer CDU im Volksentscheid durch eine relative Mehrheit von 31% der Wahlberechtigten durchkommt, kann man beispielsweise durchaus fragen, ob dieser Prozess jetzt wirklich demokratischer war, als ein Prozess bei dem die Repräsentanten von 55% der Bevölkerung einem Konsens zugestimmt haben.


Zitat:Das nächste ist der Konsens-Zwang. Man hat es ja in dem Fall von Wallonien vor kurzem erst gesehen. Was für die eine Region wünschenswert ist, muss es für die andere nicht zwangsläufig sein. Die Idee, einen Vertrag für mehrere Regierungen gleichzeitig auszuhandeln, die jedem ein Optimum an Vorteilen bringt, ist ein Prokrustesbett.

Das Beispiel von Wallonien zeigt dabei aber auch die Grenze des Prozesses auf, der auf "individuelle" Lösungen abzielt. Ohne die Wallonie geht es nicht, wer auch immer also in Belgien sich ein solches Abkommen wünscht, beziehungsweise jede Region die davon profitieren würde, ist der Leidtragende eines wallonischen Vetos. Jetzt gibt es im Grunde zwei theoretische Reaktionsmöglichkeiten. Die erste erste wäre die Orientierung an den kleinsten möglichen Einheiten. Belgien hat dann noch immer Probleme, aber andere Staaten könnten bei entsprechendem Willen noch immer zustimmen. Das erste Problem bei diesem Ansatz ist jedoch, dass die Kanadier ein Abkommen mit dem größten Binnenmarkt der Welt schließen wollten. Gegenüber einem einzelnen Land hätten sie von Beginn an weniger Kompromissbereitschaft zeigen müssen. Ab diesem Zeitpunkt kämpfen die einzelnen europäischen Einheiten dann außerdem gegeneinander, was die europäische Verhandlungsposition weiter schwächt.
Die zweite Möglichkeit ist der Versuch einer gemeinsamen Verhandlungsposition als Kompromiss. Da bekommt nicht jeder was er will, aber jeder immerhin etwas. Diese Lösung scheitert momentan aber vor allem an der Tatsache, dass Kompromissbereitschaft heutzutage wohl wieder zunehmend als Schwäche und Fehlverhalten ausgelegt wird.


Beaumaris schrieb:Dein Kommentar dazu ist eher Populistisch, weil er leider Ursache und Wirkung verwechselt. Da die Bevölkerung von jeglicher dirkter Einflussnahme völlig ausgeschlossen ist, gibt es Politikverdrossenheit. Alle größeren EU-Projekte stoßen zwangsläufig auf großen Gegenwind in der Bevölkerung, da darauf keine dirkete demokratische Einflussnahme vorgesehen ist.

Die These müsste allerdings erstmal belegt werden. Intuitiv kann ein solcher Zusammenhang zwar bestehen, da gibt es aber durchaus Grund zum Zweifel. Die These, dass direktdemokratische Elemente die Politikverdrossenheit reduzieren hält sich zwar hartnäckig, ist aber bereits mehrfach widerlegt worden. Es gibt für mich daher erstmal keinen Grund anzunehmen, dass der Mangel an direkten Volksentscheidungen der Kern des Problems ist. Auch die Gründe für direktdemokratische Ablehnungen von EU-Entscheidungen lagen bislang nicht in einem grundsätzlichen Mangel an Plebesziten begründet.


Beaumaris schrieb:Politik im Allgemeinen ist jetzt m.M.n. nichts, was den Intellekt eines 15-jährigen großartig übersteigt. Ich wüsste nicht, wie man es rechtfertigen könnte, in diesem Prozess keine dirketen demokratischen Elemente einzubeziehen. Die diffusen Ängste, dass die Bevölkerung schlechtere Entscheidungen treffen könnte als der Berufspolitiker unter Koaltions- und Fraktionszwang, sind genauso fundiert wie die Ängste eines Populisten, also quasi ohne Substanz.

Ich würde nicht behaupten, dass die Entscheidungen grundsätzlich "schlechter" sind. Das scheitert schon alleine daran, dass diese These einen halbwegs objektiven Maßstab für "gut" oder "schlecht" bräuchte. Nein, ich zweifel tatsächlich die demokratische Qualität der direkten Volksentscheide als solche an. Dieser Prozess ist weder für Kompromisse zugänglich, noch ist er dazu geeignet in schwierigen Streitfragen eine Lösung zu beiderseitigem Einverständnis herbeizuführen oder den gesellschaftlichen Frieden zu wahren. Direkte Demokratie versagt außerdem dabei die Politikverdrossenheit zu reduzieren, die sozial schwachen vernünftig zu repräsentieren oder den Einfluss von finanzstarken Interessengruppen zu reduzieren. Im Grunde das einzige was diese Entscheidungsform kann, ist eine Entscheidung mit einem gefährlichen Maß an Legitimation zu schaffen. Sozusagen mit einer "basta!" Wirkung. Wobei über den Umweg der Wahlbeteiligung auch in den meisten Fällen jeder vor sich hin interpretieren kann.
Dazu würde ich nicht sagen, dass Politik allgemein den Intellekt eines durchschnittlichen Menschen, sei er nun 15 oder 76, übersteigt. Allerdings ist es auch weniger eine Frage der Intelligenz, als vielmehr der Erfahrung und des Fachwissens, welches die meisten Menschen einfach nicht haben. Das meine ich nicht arrogant oder herablassend, aber jemand der sich nicht mit Politik beschäftigt hat davon keine Ahnung. Das gilt in diesem Feld wie in jedem anderen Gebiet. Ich kann auch nicht erwarten, dass irgendein Mensch mich korrekt diagnostizieren oder meinen Computer reparieren kann.
Jeder kann schnell eine Meinung haben um vielleicht, im Idealfall, kann die Person korrekt einschätzen welche Auswirkungen eine Entwicklung auf sie selbst und ihr Umfeld haben wird. Selbst das ist aber schon zweifelhaft. In Anbetracht der Tatsache, dass Menschen durch irrationale Ängste problemlos manipulierbar sind und dieser Effekt sich bei Gruppen durch die soziale Dynamik eher noch verschlimmert, ist die Fähigkeit des 15 Jährigen ohne nennenswerte politische Vorkenntnisse zu einer rationalen Entscheidung zu kommen massiv eingeschränkt.


Beaumaris schrieb:"Radikaldemokraten" ist zudem ein Kampfbegriff für die m.M.n. völlig gesunde Ansicht, dass man nur in Ausnahmefällen (e.g. praktische Erwägungen) seine Autonomie an einen Repräsentaten abtreten sollte.

Ich möchte "Radikaldemokraten" tatsächlich nicht als Kampfbegriff verstanden wissen. Ich verwende den Begriff vor dem klassischen theoretischen Wettstreit zwischen Demokratie und Republikanismus. Um aber beim Thema zu bleiben: Wenn es um die Frage eines Freihandelsabkommens geht haben wir in meinen Augen ein perfektes Beispiel für "praktische Erwägungen" als Begründung für Repräsentanten. Das Aushandeln derartiger Details erfordert ein Maß an ökonomischem und vor allem juristischem Fachwissen, welches die Kenntnisse der meisten Menschen naturgemäß übersteigt. Da zähle ich mich auch durchaus selber mit rein. Ich bin ebenfalls nicht mit dem Maß an Geheimhaltung zufrieden, allerdings kenne ich den Effekt den Öffentlichkeit auf Politiker hat und ich habe ja nun mehrfach sehen dürfen, wie einfach es ist die Öffentlichkeit durch unehrliche Argumente aufzustacheln.
Wer sagt, dass er aus dem Prinzip der Geheimhaltung bei den Verhandlungen heraus ablehnen und dagegen sein will, der darf das tun. Schließlich hat jeder seine eigene Basis für den Entscheidungsprozess. Hier haben wir aber eine Situation, wo der Protest von zig Gruppen nurnoch aus Prinzip geführt wird. Prinzipien die sich teilweise auch offen widersprechen würden, aber bei einer Contra-Position natürlich erst einmal ausreichen. Der ganze Prozess ist allerdings schon extrem irrsinnig, weil wir hier Leute haben die aus einer Prinzipiellen Position für Offenheit, einem Prinzip der nationalen Souveränität, prinzipiellem Antiamerikanismus, prinzipieller Freihandelskritik etc. eine große Anti-Koalition bilden. Wir haben also eine Gesellschaft vor uns die zunehmend ihren eigenen Entscheidungsspielraum einschränkt, indem neben moralischen Prinzipien auch zunehmend technische Verfahren und Details als rote Linien markiert werden. Letztlich also auch das genaue Gegenteil dessen was man für eine sinnvolle direktdemokratische Struktur bräuchte.


Beaumaris schrieb:Ich denke die Fabel von den Trauben und dem Fuchs ist dir bekannt?

Nope. Care to explain?


Beaumaris schrieb:Gehe mal tiefer auf sicherheitspolitische Angelegenheiten ein. Mich würde interessieren was da kommt.

Es ist ja nun kein Geheimnis, dass Europa militärisch eine Lachnummer ist. Auf dem globalen Maßstab wird Europa da kaum als Akteur wahrgenommen. Geschweige denn ist den Europäern zuzutrauen ihre eigene Peripherie sichern zu können. Aber wir müssen noch nicht einmal ins militärische gehen, weil dies ja einen so schlimmen Ruf hat. RD wink Europa hat nach wie vor keine gemeinsame außenpolitische Position, was es uns unmöglich macht eine gelungene Strategie für den Auswärtigen Politikbereich zu formulieren. Wenn wir beim Thema Energie bleiben, dann haben wir ein gesteigertes Interesse unsere Abhängigkeit von russischen Lieferungen zu reduzieren. Insbesondere in Osteuropa haben unsere Verbündeten eine Heidenangst vor ihrem östlichen Nachbarn.
Die besten Chancen haben wir dafür grundsätzlich mit einer Pipeline von Aserbaidjan, allerdings kommt da das Erdogan-Problem etwas in die Queere. Könnte Probleme bereiten. Nordafrika ist von Unruhen bedroht und weder haben wir militärische Sicherungspläne, noch eine Idee, wie wir dortigen Regierungen helfen können, es sei denn, wir wollen einfach zum Klassiker zurückkehren und lokalen Diktatoren Geld bezahlen. Allerdings wird dies der Region keine dauerhafte Zukunftsperspektive sichern.
Afrika ist ebenfalls Sicherheitsprobleme und wir konkurrieren mit den Chinesen um die Förderrechte. Da China grundsätzlich keine Probleme mit Menschenrechten hat, hat es in der Zusammenarbeit mit lokalen Diktatoren einen Vorteil, was wiederum die Autokraten strukturell gegenüber Demokratien stärkt. Europa kann sich allerdings auch nicht auf eine Politik verständigen, die Afrika eine andere Zukunft versprechen könnte. Eher im Gegenteil.
Nordamerika ist von den Alternativen wahrscheinlich die sicherste und dürfte dank Fracking in Zukunft genügend Erdgas produzieren. Dies würde uns die Diversifizierung erleichtern und gleichzeitig den Drang der Osteuropäer nach eigenen Frackinganlagen reduzieren. Erdgas ist wegen seiner relativen Sauberkeit ein extrem wertvoller Rohstoff in einer Übergangsphase hin zu niedrigeren CO2 Emissionen. Es ist für uns also durchaus von Vorteil, wenn wir ohne Schwierigkeiten in Kanada, oder die USA investieren können um unseren Bedarf zu sichern. Auch vor dem Hintergrund, dass dieses Geld dann immerhin in demokratische Staaten fließt und nicht in die Taschen von Diktatoren.
Ein kurzes Augenmerk auf die Energie- und Sicherheitspolitik, wobei beides für Europa untrennbar verbunden ist.

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03.11.2016
Beaumaris Offline
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RE: "Freihandelsabkommen" TTIP
(03.11.2016)Mc Timsy schrieb:  Dem Maßstab widerspreche ich, gerade mit Blick auf Länder wie die Schweiz oder Californien mit einer starken direktdemokratischen Tradition. Direkte Demokratie führt in der Mehrheit der Fälle zu geringeren Beteiligungsquoten als die Repräsentantenwahlen und im allgemeinen setzen sich die Ansichten von besser ausgestatteten Minderheiten durch. Jetzt kann man natürlich sagen, dass die Ansichten von Minderheiten auch in repräsentativen System durchkommen, aber in einem System mit Konsenszwängen müssen letztlich die Mehrheiten der Repräsentaten berücksichtigt werden, die sich wiederum ihrerseits auf Mehrheiten stützen können. Wenn das Anliegen einer CDU im Volksentscheid durch eine relative Mehrheit von 31% der Wahlberechtigten durchkommt, kann man beispielsweise durchaus fragen, ob dieser Prozess jetzt wirklich demokratischer war, als ein Prozess bei dem die Repräsentanten von 55% der Bevölkerung einem Konsens zugestimmt haben.

Du sagst das so, als wäre das ein empirisches Gesetz, was es nicht ist. Außerdem widersprichst du deinem Punkt, direkte Demokratie würde Populisten in die Hände spielen und foglich Minderheiten gefähren. Außerdem zweifel ich deine Umrechnung: Stimme von einem Repräsentaten zu direkte Stimme an.

Und erläutere mal folgendes: Das Volk ist lt. dir irgendwie nicht kompetent genug, um direkt über die Gesetzgebung abzustimmen, aber wiederum doch irgendwie kompetent genug, die richtigen Repräsentaten zu wählen? Wie geht denn das?

(03.11.2016)Mc Timsy schrieb:  Das Beispiel von Wallonien zeigt dabei aber auch die Grenze des Prozesses auf, der auf "individuelle" Lösungen abzielt. Ohne die Wallonie geht es nicht, wer auch immer also in Belgien sich ein solches Abkommen wünscht, beziehungsweise jede Region die davon profitieren würde, ist der Leidtragende eines wallonischen Vetos. Jetzt gibt es im Grunde zwei theoretische Reaktionsmöglichkeiten. Die erste erste wäre die Orientierung an den kleinsten möglichen Einheiten. Belgien hat dann noch immer Probleme, aber andere Staaten könnten bei entsprechendem Willen noch immer zustimmen. Das erste Problem bei diesem Ansatz ist jedoch, dass die Kanadier ein Abkommen mit dem größten Binnenmarkt der Welt schließen wollten. Gegenüber einem einzelnen Land hätten sie von Beginn an weniger Kompromissbereitschaft zeigen müssen. Ab diesem Zeitpunkt kämpfen die einzelnen europäischen Einheiten dann außerdem gegeneinander, was die europäische Verhandlungsposition weiter schwächt.
Die zweite Möglichkeit ist der Versuch einer gemeinsamen Verhandlungsposition als Kompromiss. Da bekommt nicht jeder was er will, aber jeder immerhin etwas. Diese Lösung scheitert momentan aber vor allem an der Tatsache, dass Kompromissbereitschaft heutzutage wohl wieder zunehmend als Schwäche und Fehlverhalten ausgelegt wird.

Ob diese strategische Überlegung so gilt oder nicht sei dahingestellt. Selbst wenn es nur um ein kleineres Land wie Belgien gehen würde, entweder es wird im kleinen ein Kompromiss gefunden oder nicht. Die Überlegung geht eher davon aus, wer von wem, was möchte. Eine stark ländlich geprägte Region profitiert viel weniger als eine Region in der viele Großkonzerne angesiedlet sind.


(03.11.2016)Mc Timsy schrieb:  Die These müsste allerdings erstmal belegt werden. Intuitiv kann ein solcher Zusammenhang zwar bestehen, da gibt es aber durchaus Grund zum Zweifel. Die These, dass direktdemokratische Elemente die Politikverdrossenheit reduzieren hält sich zwar hartnäckig, ist aber bereits mehrfach widerlegt worden. Es gibt für mich daher erstmal keinen Grund anzunehmen, dass der Mangel an direkten Volksentscheidungen der Kern des Problems ist. Auch die Gründe für direktdemokratische Ablehnungen von EU-Entscheidungen lagen bislang nicht in einem grundsätzlichen Mangel an Plebesziten begründet.

Naja, meine These ist plausibel und nachvollziehbar. Deine wäre im Gegensatz, die breite, tumbe Masse interessiert sich in keiner Spielart der Demokratie für die Politik. Ich sage: Wenn die Bevölkerung merkt, dass sie das Runder in der Hand hat, dann wird damit auch verantwortungsvoll umgegangen. Vielleicht mag es anfangs dann schlechter laufen als in einer repräsentativen Demokratie, aber solche Lernfehlern wären nötig um eine Kultur der dirketen Demokratie voranzubringen.

(03.11.2016)Mc Timsy schrieb:  Ich würde nicht behaupten, dass die Entscheidungen grundsätzlich "schlechter" sind. Das scheitert schon alleine daran, dass diese These einen halbwegs objektiven Maßstab für "gut" oder "schlecht" bräuchte. Nein, ich zweifel tatsächlich die demokratische Qualität der direkten Volksentscheide als solche an. Dieser Prozess ist weder für Kompromisse zugänglich, noch ist er dazu geeignet in schwierigen Streitfragen eine Lösung zu beiderseitigem Einverständnis herbeizuführen oder den gesellschaftlichen Frieden zu wahren. Direkte Demokratie versagt außerdem dabei die Politikverdrossenheit zu reduzieren, die sozial schwachen vernünftig zu repräsentieren oder den Einfluss von finanzstarken Interessengruppen zu reduzieren. Im Grunde das einzige was diese Entscheidungsform kann, ist eine Entscheidung mit einem gefährlichen Maß an Legitimation zu schaffen. Sozusagen mit einer "basta!" Wirkung. Wobei über den Umweg der Wahlbeteiligung auch in den meisten Fällen jeder vor sich hin interpretieren kann.
Dazu würde ich nicht sagen, dass Politik allgemein den Intellekt eines durchschnittlichen Menschen, sei er nun 15 oder 76, übersteigt. Allerdings ist es auch weniger eine Frage der Intelligenz, als vielmehr der Erfahrung und des Fachwissens, welches die meisten Menschen einfach nicht haben. Das meine ich nicht arrogant oder herablassend, aber jemand der sich nicht mit Politik beschäftigt hat davon keine Ahnung. Das gilt in diesem Feld wie in jedem anderen Gebiet. Ich kann auch nicht erwarten, dass irgendein Mensch mich korrekt diagnostizieren oder meinen Computer reparieren kann.
Jeder kann schnell eine Meinung haben um vielleicht, im Idealfall, kann die Person korrekt einschätzen welche Auswirkungen eine Entwicklung auf sie selbst und ihr Umfeld haben wird. Selbst das ist aber schon zweifelhaft. In Anbetracht der Tatsache, dass Menschen durch irrationale Ängste problemlos manipulierbar sind und dieser Effekt sich bei Gruppen durch die soziale Dynamik eher noch verschlimmert, ist die Fähigkeit des 15 Jährigen ohne nennenswerte politische Vorkenntnisse zu einer rationalen Entscheidung zu kommen massiv eingeschränkt.

Als gäbe es diese asymmetrische Demobilisierung bei der repräsentativen Demokratie nicht. Zumal du Argumente gegen die Demokratie im Allgemeinen mit Argumenten gegen die direkte Demokratie hier vermischst. Außerdem kann ich der Argumentation, dass die Bevölkerung in irrationalen Ängsten befangen ist, der Politiker jedoch nicht, nicht nachvollziehen - um mal das Höhlengleichnis heranzuziehen - als würde die Bevölkerung nur die Schatten sehen und die Politiker das Licht. Das halte ich für Unsinn.


(03.11.2016)Mc Timsy schrieb:  Ich möchte "Radikaldemokraten" tatsächlich nicht als Kampfbegriff verstanden wissen. Ich verwende den Begriff vor dem klassischen theoretischen Wettstreit zwischen Demokratie und Republikanismus. Um aber beim Thema zu bleiben: Wenn es um die Frage eines Freihandelsabkommens geht haben wir in meinen Augen ein perfektes Beispiel für "praktische Erwägungen" als Begründung für Repräsentanten. Das Aushandeln derartiger Details erfordert ein Maß an ökonomischem und vor allem juristischem Fachwissen, welches die Kenntnisse der meisten Menschen naturgemäß übersteigt. Da zähle ich mich auch durchaus selber mit rein. Ich bin ebenfalls nicht mit dem Maß an Geheimhaltung zufrieden, allerdings kenne ich den Effekt den Öffentlichkeit auf Politiker hat und ich habe ja nun mehrfach sehen dürfen, wie einfach es ist die Öffentlichkeit durch unehrliche Argumente aufzustacheln.
Wer sagt, dass er aus dem Prinzip der Geheimhaltung bei den Verhandlungen heraus ablehnen und dagegen sein will, der darf das tun. Schließlich hat jeder seine eigene Basis für den Entscheidungsprozess. Hier haben wir aber eine Situation, wo der Protest von zig Gruppen nurnoch aus Prinzip geführt wird. Prinzipien die sich teilweise auch offen widersprechen würden, aber bei einer Contra-Position natürlich erst einmal ausreichen. Der ganze Prozess ist allerdings schon extrem irrsinnig, weil wir hier Leute haben die aus einer Prinzipiellen Position für Offenheit, einem Prinzip der nationalen Souveränität, prinzipiellem Antiamerikanismus, prinzipieller Freihandelskritik etc. eine große Anti-Koalition bilden. Wir haben also eine Gesellschaft vor uns die zunehmend ihren eigenen Entscheidungsspielraum einschränkt, indem neben moralischen Prinzipien auch zunehmend technische Verfahren und Details als rote Linien markiert werden. Letztlich also auch das genaue Gegenteil dessen was man für eine sinnvolle direktdemokratische Struktur bräuchte.

Ich muss schon mal vorweg sagen, dass ich gewisse Grundwerte und Prinzipien nicht für Verhandelbar halte und eins dieser Prinzipien ist bspw. die Transparenz der Institutionen. Der Antiamerikanischmus-Vorwurf ist so alt wie der Kalte Krieg selbst und an sich eigentlich reiner Populismus. Du sagst, gewisse Themen lassen sich nur in der Hinterkammer besprechen, weil sie als "heiß" gelten. Ich sage hier liegt wieder die Verwechslung von Ursache und Wirkung vor. Eben weil keine offene und ehrliche Diskussion stattfindet, gilt das Thema als heiß. Die Positionen, die als konsenfähig gelten, werden ja bereits von der Politik vorgegeben. Ich kann mich zwischen 4 bis 5 Parteien entscheiden, in dieser Blase (in der es viele Überschneidungen gibt) bewegt sich die Diskussion. Der Glaube, der Entscheidungsspielraum in der Repräsentativen Demokratie wäre größer, kann ich daher nicht nachvollziehen.

(03.11.2016)Mc Timsy schrieb:  Nope. Care to explain?

Der Fuchs kann die Trauben nicht erreichen, da diese zu hoch hängen und von da an, fängt der Fuchs an, Trauben gering zu schätzen und wendet sich von ihnen ab. Ich denke das ist eine ganz natürliche, menschliche Reaktion, die dort portraitiert wird. Ich denke das kann man leicht auf die Bevölkerung und die Politik der EU übertragen.

(03.11.2016)Mc Timsy schrieb:  Es ist ja nun kein Geheimnis, dass Europa militärisch eine Lachnummer ist. Auf dem globalen Maßstab wird Europa da kaum als Akteur wahrgenommen. Geschweige denn ist den Europäern zuzutrauen ihre eigene Peripherie sichern zu können. Aber wir müssen noch nicht einmal ins militärische gehen, weil dies ja einen so schlimmen Ruf hat. RD wink Europa hat nach wie vor keine gemeinsame außenpolitische Position, was es uns unmöglich macht eine gelungene Strategie für den Auswärtigen Politikbereich zu formulieren. Wenn wir beim Thema Energie bleiben, dann haben wir ein gesteigertes Interesse unsere Abhängigkeit von russischen Lieferungen zu reduzieren. Insbesondere in Osteuropa haben unsere Verbündeten eine Heidenangst vor ihrem östlichen Nachbarn.
Die besten Chancen haben wir dafür grundsätzlich mit einer Pipeline von Aserbaidjan, allerdings kommt da das Erdogan-Problem etwas in die Queere. Könnte Probleme bereiten. Nordafrika ist von Unruhen bedroht und weder haben wir militärische Sicherungspläne, noch eine Idee, wie wir dortigen Regierungen helfen können, es sei denn, wir wollen einfach zum Klassiker zurückkehren und lokalen Diktatoren Geld bezahlen. Allerdings wird dies der Region keine dauerhafte Zukunftsperspektive sichern.
Afrika ist ebenfalls Sicherheitsprobleme und wir konkurrieren mit den Chinesen um die Förderrechte. Da China grundsätzlich keine Probleme mit Menschenrechten hat, hat es in der Zusammenarbeit mit lokalen Diktatoren einen Vorteil, was wiederum die Autokraten strukturell gegenüber Demokratien stärkt. Europa kann sich allerdings auch nicht auf eine Politik verständigen, die Afrika eine andere Zukunft versprechen könnte. Eher im Gegenteil.
Nordamerika ist von den Alternativen wahrscheinlich die sicherste und dürfte dank Fracking in Zukunft genügend Erdgas produzieren. Dies würde uns die Diversifizierung erleichtern und gleichzeitig den Drang der Osteuropäer nach eigenen Frackinganlagen reduzieren. Erdgas ist wegen seiner relativen Sauberkeit ein extrem wertvoller Rohstoff in einer Übergangsphase hin zu niedrigeren CO2 Emissionen. Es ist für uns also durchaus von Vorteil, wenn wir ohne Schwierigkeiten in Kanada, oder die USA investieren können um unseren Bedarf zu sichern. Auch vor dem Hintergrund, dass dieses Geld dann immerhin in demokratische Staaten fließt und nicht in die Taschen von Diktatoren.
Ein kurzes Augenmerk auf die Energie- und Sicherheitspolitik, wobei beides für Europa untrennbar verbunden ist.

Implizierend, Europa hätte eine weitere Aufrüstung nötig. Wer soll uns denn Schaden? Mir kommt es eher so vor als würden sich NATO und Russland immer gegenseitig provozieren und dann sagen "der wars!". Weder Russland noch die USA sind unsere Feinde und mir fällt gerade kein Existenzrecht für die NATO ein oder welcher Vorteil uns aus dieser Mitgliedschaft erwächst. Europa sollte doch wenigsten die Vernunft haben und sich neutral verhalten. Zudem kann man auch Handel treiben, ob jetzt mit freien Staaten oder Diktaturen und muss nicht zwangsläufig in die Rüstungsspirale fallen.

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RE: "Freihandelsabkommen" TTIP
Beaumaris schrieb:Du sagst das so, als wäre das ein empirisches Gesetz, was es nicht ist.

Welcher Teil jetzt genau? Das die Beteiligungen fast immer geringer sind als die Parlamentswahlen? Ist eine Tatsache. Ebenso kann man demokratietheoretische Einwände erheben. Als Einstiegsquelle verlinke ich einfach mal eine der Arbeiten von Prof. Wolfgang Merkel von der Uni Heidelberg. Der Mann forscht seit Jahren zu diesem Thema und diesen Artikel konnte ich jetzt nur relativ schnell zu Tage fördern.

Klick!

Außerdem sehe ich leider den Widerspruch nicht zur Idee, dass diese Entscheidungsprozesse populistisch genutzt werden können. Wir stacheln die Bevölkerung auf und dann lassen wir über das Thema abstimmen. Siehe Brexit.
Gerade wenn ich einen Entscheidungsprozess nutzen kann, der sich als endgültige Willensäußerung des Volkes versteht, gleichzeitig aber in den meisten Fällen noch geringere Wahlbeteiligungen mitbringt als Parlamentswahlen, dann habe ich als Populist die ultimative Waffe an der Hand. Im Idealfall muss ich nämlich nur noch genügend meiner eigenen Anhänger aufstacheln. Darüber hinaus: Beispiel Ungarn, können Politiker auf diesem Wege auch versuchen sich die Legitimation zu holen um Regelungen des Minderheitenschutzes zu umgehen, oder die Verfassung in eigenem Sinne festzuschreiben. Immer mit der Begründung, dass das Volk gesprochen habe.


Zitat:Das Volk ist lt. dir irgendwie nicht kompetent genug, um direkt über die Gesetzgebung abzustimmen, aber wiederum doch irgendwie kompetent genug, die richtigen Repräsentaten zu wählen? Wie geht denn das?

Kannst du beurteilen ob du eine Herztransplantation brauchst? Nein, aber du kannst auf die eine oder andere Weise zu der Entscheidung kommen, ob du einen Artzt für kompetent hälst oder nicht.
Genau so beim Politiker. Du kannst der Überzeugung sein, dass die Frau genug Fachwissen mitbringt und sicher die richtigen Entscheidungen treffen wird, du kannst die Person für moralisch integer halten, nach dem Parteibuch gucken, oder nach jedem anderen Faktor der eine Person in deinen Augen vertrauenswürdig erscheinen lässt. Der Rest ergibt sich daraus, dass die Politikerin nicht im luftleeren Raum arbeitet. Es gibt fachlich spezialisierte Parteikollegen, wissenschaftliche Beiräte, Fachpersonal von Institutionen und Partei, die Details übernimmt in den meisten Bereichen ohnehin die Beamtenschaft und dazu ist die Repräsentantin spätestens nach der Wahl dauerhaft von eben diesen Themen umgeben. Wie du schon selber sagtest, ist Politik etwas, was auf gewisse Weise jeder verstehen kann. Der Vorteil den ein professioneller Politiker gegenüber deinem 15 Jährigen hat ist aber, dass der Politiker wirklich nichts anderes mehr macht als sich mit Politik zu beschäftigen und von Fachpersonal umgeben ist.


Zitat:Naja, meine These ist plausibel und nachvollziehbar. Deine wäre im Gegensatz, die breite, tumbe Masse interessiert sich in keiner Spielart der Demokratie für die Politik.

Plausibelität macht eine These noch nicht richtig, wie dir unschwer bekannt sein dürfte. Wir haben Studien die ergeben haben, dass Gesellschaften mit Volksentscheiden weder stärkere Wahlbeteiligungen aufweisen, noch mehr fachliche Kompetenz in der Bevölkerung verbreitet ist. Ich verweise erneut auf Prof. Merkel als Ausgangspunkt für weiterführende Literatur zu diesem Thema.
Wenn du mir auch kurz erlauben würdest, im Sinne des Argumentes akzeptiere ich die These die du mir in den Mund gelegt hast, aber nur unter der Bedingung, dass du das Wort: "tumbe" herausstreichst.
Eine große Zahl der Menschen findet Politik nunmal langweilig. Viele konsumieren nicht einmal irgendwelche politischen und wirtschaftlichen Nachrichten und auch wenn prinzipielles Interesse besteht ist ein Großteil der Menschen in einem eigenen Leben eingebunden, welches in den meisten Fällen schlicht unpolitisch ist. Sie gehen zur Arbeit, kommen nach Hause, fahren am Wochenende mit den Kindern an den Baggersee und geraten an Weihnachten in Stress wegen dem Besuch bei der Oma. Die haben weder die Zeit, noch die Motivation sich mit den Entscheidungsprozessen der Politik nennenswert zu beschäftigen, oder sich tiefgehend in internationale Vertragswerke einzulesen und später angemessen zu recherchieren. Die meisten bekommen von Infoveranstaltungen nicht einmal was mit. Wenn direkte Demokratie diesen Zustand nennenswert auflösen würde, dann könnten wir dies an existierenden Beispielen beobachten. Tun wir aber nicht.


Zitat:Außerdem kann ich der Argumentation, dass die Bevölkerung in irrationalen Ängsten befangen ist, der Politiker jedoch nicht, nicht nachvollziehen - um mal das Höhlengleichnis heranzuziehen - als würde die Bevölkerung nur die Schatten sehen und die Politiker das Licht. Das halte ich für Unsinn.

Und da sind wir schon zwei.  Pinkie happy Das wäre wirklich etwas unsinnig.
Die Effekte der Massenpsychologie sind allerdings auch nicht zu verachten. Menschenmassen können gezielt manipuliert werden und das Individuum passt sich an. Das sind natürliche Prozesse mit evolutivem Hintergrund. Die Einzelperson kann zwar auch irrational Handeln. Im Falle des Repräsentanten ist die Person aber in ein Geflecht aus Parteikollegen und unterschiedlichen Kompetenzbereichen eingegliedert. Wenn der einzelne Abgeordnete Panik schiebt, dann kann er durchaus seine Partei mitziehen, aber die Partei kann alleine nicht viel ausrichten. Selbst wenn eine komplette Institution in der Irrationalität gefangen ist kann diese Institution nicht ohne die anderen handeln und es gibt genügend Fachpersonal an allen Ecken, welches Anmerkungen machen kann. Natürlich gibt es immer Restrisiken und kein System der Welt kann perfekt rationale Entscheidungen herbeiführen. Aber Teile des politischen Systems zur Skandierung von rechtsradikalen Parolen zu bringen ist wesentlich aufwändiger als dies bei einer Gruppe von Leuten auf dem Marktplatz zu tun.


Zitat:Ich muss schon mal vorweg sagen, dass ich gewisse Grundwerte und Prinzipien nicht für Verhandelbar halte und eins dieser Prinzipien ist bspw. die Transparenz der Institutionen. Der Antiamerikanischmus-Vorwurf ist so alt wie der Kalte Krieg selbst und an sich eigentlich reiner Populismus. Du sagst, gewisse Themen lassen sich nur in der Hinterkammer besprechen, weil sie als "heiß" gelten. Ich sage hier liegt wieder die Verwechslung von Ursache und Wirkung vor. Eben weil keine offene und ehrliche Diskussion stattfindet, gilt das Thema als heiß. Die Positionen, die als konsenfähig gelten, werden ja bereits von der Politik vorgegeben. Ich kann mich zwischen 4 bis 5 Parteien entscheiden, in dieser Blase (in der es viele Überschneidungen gibt) bewegt sich die Diskussion. Der Glaube, der Entscheidungsspielraum in der Repräsentativen Demokratie wäre größer, kann ich daher nicht nachvollziehen.

Ich wünschte ich könnte den Antiamerikanismus-Vorwurf als reinen Populismus abtun, aber ich habe leider schon mit genug Leuten geredet um zu wissen, dass der Vorwurf manchmal zutreffend ist.  FS sad
Ansonsten finde ich aber deinen Glauben an die Macht offener und ehrlicher Diskussionen sehr erfrischend. Ich bin da leider weniger von überzeugt. Das Brexit-Lager hat den Volksentscheid im wesentlichen durch das Verbreiten von Unwahrheiten gewonnen. Trump ohnehin alle Register und ein kurzer Blick in die Geschichte zeigt, dass es nicht offene, ehrliche Diskussionen sind, die dir deine Wahlen gewinnen. Sondern erschreckend häufig primitive Emotionen Einzug halten. Die Menschen erwarten normalerweise zwei sich gegenseitig ausschließende Dinge von der Politik. Nämlich die objektiv besten Entscheidungen zu treffen und gleichzeitig klar erkennbare Kanten zu haben, damit man auch echte Alternativen wählen kann. Man soll zu gemeinsamen Lösungen finden, aber dennoch zu einem eigenen Profil kommen. Naturgemäß führen diese Dinge zu einem politischen System, in dem die Politiker einen auf Unversöhnlich machen um in der Öffentlichkeit zu punkten und dann aber relativ flexibel und rational agieren können, sobald die Kameras draußen sind. Hinzu kommt auch hier die gezielte Manipulation der Massen. In Verhandlungen mit dem politischen Gegner ist ein dezenter Leak oder ein Versprechen auf Unnachgiebigkeit in den Verhandlungen ein gutes Mittel um den Druck auf den Verhandlungspartner zu erhöhen. Letzteres ist ja quasi auch eine Komplettbeschreibung des CSU-Verhaltens in Berlin. Pinkie happy

Letztendlich aber kann ein solches System Kompromisse und Ausgleichslösungen produzieren, die bei einer einfachen Volksbefragung nicht denkbar wären. Eine unterlegene Region kann versuchen eine Kompensation für die Niederlage auszuhandeln. Ansonsten, siehe Brexit, sitzen dann eben alle die Regionen mit einer Remain-Mehrheit ohne Kompensation und ohne Kompromissbereitschaft ihrer Gegner fest. Übertrage einfach auf jedes andere Politikfeld.


Beaumaris schrieb:Implizierend, Europa hätte eine weitere Aufrüstung nötig. Wer soll uns denn Schaden? Mir kommt es eher so vor als würden sich NATO und Russland immer gegenseitig provozieren und dann sagen "der wars!". Weder Russland noch die USA sind unsere Feinde und mir fällt gerade kein Existenzrecht für die NATO ein oder welcher Vorteil uns aus dieser Mitgliedschaft erwächst. Europa sollte doch wenigsten die Vernunft haben und sich neutral verhalten. Zudem kann man auch Handel treiben, ob jetzt mit freien Staaten oder Diktaturen und muss nicht zwangsläufig in die Rüstungsspirale fallen.

Wo genau kam hier in dem Beispiel die Nato ins Spiel? Nevermind. Worum es in diesem Beispiel eigentlich ging war das Ziel von russischen Energielieferungen unabhängiger zu werden. Dieses Interesse kannst du im Grund auf mehrere Arten legitimieren. Die Osteuropäer haben Angst vor Russland und umso mehr seit Moskau die Nachrkiegsgrenzen verschoben hat. Außerdem trainiert das Land in seinen Manövern nicht weniger als Kampfeinsätze im baltikum oder die Küsteninvasion von Polen. Man kann unsere osteuropäischen Verbündeten also nicht wirklich vorwerfen, dass sie Angst um ihre Sicherheit haben.
Aber du brauchst es natürlich nicht aus diesem Blickwinkel zu betreiben. Abhängigkeit von einem Versorger macht uns übermäßig abhängig von dem guten Willen dieses Lieferanten. Russland kann aus dem Energiemix ohnehin nicht rausgedrängt werden, aber schon alleine für den Fall, dass in Russland etwas schief geht, sollte Europa in der Lage sein zumindest eine Zeit lang alle Lichter brennen zu lassen.
Darüber hinaus können wir uns durch die Konkurrenz mehrerer Anbieter auch besser Preise und Konditionen erhoffen, wofür wir allerdings erst einmal die notwendige Infrastruktur in Form von Pipelines und Flüssiggas-Transportern benötigen.
In jedem Fall ist aber die Frage wo unsere Ressourcen herkommen und diese Frage kannst du nicht ohne die Sicherheitspolitik denken. Da kann, muss Militär aber keine Rolle spielen. Da geht es letztlich auch um Umweltschutz und Menschenrechte, Demokratisierungsprozesse und den Schutz der heimischen Wirtschaft vor Know-How Diebstahl.
Und um den Bogen zu Ceta zurückzuschlagen: Nordamerika könnte wegen seinem Fracking-Boom bis 2030 zum Netto-Exporteur von Hydrocarbonaten werden. Es würde sich also als Energielieferant anbieten. Es gibt durchaus darüber hinausgehende Gründe warum eine engere wirtschaftlichere Kooperation mit den Nordamerikanern sinnvoll sein kann. Seien sie nun ökonomisch, geopolitisch oder einfach ideelller Natur.
Blöderweise gerät dieser Aspekt in der Diskussion um die Freihandelsabkommen extrem in den Hintergrund. Oftmals werden die Gründe für eine Zusammenarbeit einfach geleugnet, die Motivationen grundsätzlich auf Korruption und demokratiefeindliche Eliten reduziert. Wenn ich mal einfach bei dem Beispiel bleiben dürfte. Du siehst keine Bedrohung durch Russland. Ok, die Risikoeinschätzung kann man begründen. Aber es bleibt eine Tatsache, dass viele Menschen, vor allem in Osteuropa diese Einschätzung nicht teilen. Es sind trotzdem keine ausschließlich auf Großkonzerne beschränkten Interessen, was in der Debatte zu kurz kommt und sie in den meisten Fällen auch ziemlich fruchtlos macht. Wenn transatlantische Positionen automatisch als Big Buisness und Korruption abgetan werden, dann trägt dies jedenfalls nicht zu meinem Vertrauen in die Entscheidungsfindung des Volkes bei.

Den Wind können wir nicht bestimmen, aber die Segel richtig setzen.
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RE: "Freihandelsabkommen" TTIP
(03.11.2016)Mc Timsy schrieb:  Welcher Teil jetzt genau? Das die Beteiligungen fast immer geringer sind als die Parlamentswahlen? Ist eine Tatsache. Ebenso kann man demokratietheoretische Einwände erheben. Als Einstiegsquelle verlinke ich einfach mal eine der Arbeiten von Prof. Wolfgang Merkel von der Uni Heidelberg. Der Mann forscht seit Jahren zu diesem Thema und diesen Artikel konnte ich jetzt nur relativ schnell zu Tage fördern.

Klick!

Aus zwei partikulären, isolierten Beispielen auf eine Regel zu schließen, halte ich eher für fahrlässig. Indunktionsproblem und so. Tongue Zudem ist die geringere Wahlbeteiligung in einer Repräsentatenwahl erheblich gravierender als bei einer Abstimmung zu einem Gesetz. Wenn mich ein Gesetz nicht betrifft und keine der beiden Seiten es schafft mich besonders von ihrer Position zu überzeugen und mobilisieren, dann besteht auch keine Not für mich, meine Stimme dazu abzugeben. Wähle ich jedoch keinen Repräsentanten, dann enthalte ich meine Stimme für mehrere Jahre im Voraus zu praktisch jedem Thema. Zumal dein Einwand der geringen Wahlbeteiligung bei einigen Gesetzen überhaupt kein Gegenargument ist, sondern etwas positives: Wenn nur die Leute darüber mobilisiert werden, denen die Schache am Herzen liegt und etwas angeht, dann gibt es ja keinen Grund wieso jemand, der dem gegenüber indifferent ist, abstimmen sollte. Den Link schaue ich mir mal an, wenn ich mehr Zeit habe.

Außerdem: Wenn ich einen Stellvertreter wähle, habe ich keinen messbaren Einfluss darauf, wie meine Ansichten umgesetzt werden. Der Stellvertreter ist nicht Weisungsgebunden, sondern gibt sich lediglich einverstanden dem Wählerwillen unspezifisch nachzukommen. Wenn ich mich entscheiden müsste, in einer repräsentativen Demokratie oder einer direkten zu leben unter Anbetracht, dass ich möglichst große Autonomie bei der Gesetzgebung haben möchte, zieht erstere zwangsläufig den Kürzeren. Angenommen es ist Wahljahr und es gibt 5 große Wahlthemen und man kann bei jedem dieser 5 Themen eine von drei verschiedenen vernünftigen Positionen einnehmen, dann ist es möglich, dass eine Person eine von 3^5 verschiedenen Ansichten vertritt. Damit jeder die Chance hat, seine Meinung repräsentiert zu bekommen, müssten 3^5 = 234 wählbare Repräsentaten zur Verfügung stehen, ansonsten kriegt man seine Meinung nicht vertreten. In dieser idealisierten Betrachtung sieht es schon schlecht aus, aber die Wirklichkeit ist ja noch ein anderes Kaliber. Dem kann man nur dadurch beikommen, indem ich selbst über das jeweilige Gesetz abstimme.

Zudem kann ich mich in unserem System nur einmal alle 4 Jahre äußern, den Rest der Zeit bin ich von jeglicher politischer Mitbestimmung effektiv ausgeschlossen.


(03.11.2016)Mc Timsy schrieb:  Außerdem sehe ich leider den Widerspruch nicht zur Idee, dass diese Entscheidungsprozesse populistisch genutzt werden können. Wir stacheln die Bevölkerung auf und dann lassen wir über das Thema abstimmen. Siehe Brexit.
Gerade wenn ich einen Entscheidungsprozess nutzen kann, der sich als endgültige Willensäußerung des Volkes versteht, gleichzeitig aber in den meisten Fällen noch geringere Wahlbeteiligungen mitbringt als Parlamentswahlen, dann habe ich als Populist die ultimative Waffe an der Hand. Im Idealfall muss ich nämlich nur noch genügend meiner eigenen Anhänger aufstacheln. Darüber hinaus: Beispiel Ungarn, können Politiker auf diesem Wege auch versuchen sich die Legitimation zu holen um Regelungen des Minderheitenschutzes zu umgehen, oder die Verfassung in eigenem Sinne festzuschreiben. Immer mit der Begründung, dass das Volk gesprochen habe.

Der Vorteil einer direkten Demokratie ist doch gerade die Flexibilität. Wenn sich ein Gesetz im Nachhinein als unbeliebt herausstellt, wird es eben wieder rückgängig gemacht. Wenn in der repräsentativen Demokratie einmal die Rechtspopulisten mit am Steuer sitzen, dann hat man sie mindestens für ein paar Jahre an der Backe. Und als wäre das Aufstacheln in der repräsentativen Demokratie nicht möglich: Ungarn (Fidesz), Polen (PIS), Frankreich (FN), Deutschland (AfD). Das Argument, Rechtspopulisten haben leichtes Spiel, gilt mindestens im gleichen Maße für die repräsentative Demokratie. So stark wie der Rechtspopulismus in der EU Einzug hält, würde mich auch deine Erklärung dafür interessieren. Außerdem ist das Argument mit der "gefühlten Legitimität" sehr schwach: "Lassen wir das mit der direkten Demokratie vollständig, weil dann könnte es sein, dass wir einem Populisten womöglich Argumente/Rechtfertigung liefern!"


(03.11.2016)Mc Timsy schrieb:  Kannst du beurteilen ob du eine Herztransplantation brauchst? Nein, aber du kannst auf die eine oder andere Weise zu der Entscheidung kommen, ob du einen Artzt für kompetent hälst oder nicht.
Genau so beim Politiker. Du kannst der Überzeugung sein, dass die Frau genug Fachwissen mitbringt und sicher die richtigen Entscheidungen treffen wird, du kannst die Person für moralisch integer halten, nach dem Parteibuch gucken, oder nach jedem anderen Faktor der eine Person in deinen Augen vertrauenswürdig erscheinen lässt. Der Rest ergibt sich daraus, dass die Politikerin nicht im luftleeren Raum arbeitet. Es gibt fachlich spezialisierte Parteikollegen, wissenschaftliche Beiräte, Fachpersonal von Institutionen und Partei, die Details übernimmt in den meisten Bereichen ohnehin die Beamtenschaft und dazu ist die Repräsentantin spätestens nach der Wahl dauerhaft von eben diesen Themen umgeben. Wie du schon selber sagtest, ist Politik etwas, was auf gewisse Weise jeder verstehen kann. Der Vorteil den ein professioneller Politiker gegenüber deinem 15 Jährigen hat ist aber, dass der Politiker wirklich nichts anderes mehr macht als sich mit Politik zu beschäftigen und von Fachpersonal umgeben ist.


Der Vergleich hinkt. Viele Entscheidungen sind einfach so, dass sie auch der Durchschnittsbürger treffen kann, ohne größere Expertise, sondern nur mit marginalem Hintergrundwissen. Ich kann wissen wie ein Verbrennungsmotor im Prinzip funktioniert, da muss ich keinen reparieren oder bauen können. Mit einer etablierten direkt demokratischen Kultur nimmt auch die Kompetenz der Bevölkerung dahingehend zu. Auf die externe Expertise, auf die ein Politiker angewiesen ist, ist genauso der Durchschnittsbürger angewiesen. Man muss ja nicht jede Abstimmung über die direkte Demorkatie entscheiden. Gefühlt über die Hälfte ist so beschaffen, dass die Gesetzeslage nicht zu spezifisch ist und jeder durchschnittlich gebildete Bürger eine fundierte Meinung dazu hat. Zudem ist der Politiker manipulierbarer als die Bevölkerung, einfach weil der Aufwand der Manipulation bedeutend größer ist. Dass der Klüngel in der Politik zuhause ist, ist doch kein Geheinmnis, allein schon die unzähligen Beispiele vom Schwarzen Filz brauche ich wohl nicht anführen.

(03.11.2016)Mc Timsy schrieb:  Plausibelität macht eine These noch nicht richtig, wie dir unschwer bekannt sein dürfte. Wir haben Studien die ergeben haben, dass Gesellschaften mit Volksentscheiden weder stärkere Wahlbeteiligungen aufweisen, noch mehr fachliche Kompetenz in der Bevölkerung verbreitet ist. Ich verweise erneut auf Prof. Merkel als Ausgangspunkt für weiterführende Literatur zu diesem Thema.
Wenn du mir auch kurz erlauben würdest, im Sinne des Argumentes akzeptiere ich die These die du mir in den Mund gelegt hast, aber nur unter der Bedingung, dass du das Wort: "tumbe" herausstreichst.
Eine große Zahl der Menschen findet Politik nunmal langweilig. Viele konsumieren nicht einmal irgendwelche politischen und wirtschaftlichen Nachrichten und auch wenn prinzipielles Interesse besteht ist ein Großteil der Menschen in einem eigenen Leben eingebunden, welches in den meisten Fällen schlicht unpolitisch ist. Sie gehen zur Arbeit, kommen nach Hause, fahren am Wochenende mit den Kindern an den Baggersee und geraten an Weihnachten in Stress wegen dem Besuch bei der Oma. Die haben weder die Zeit, noch die Motivation sich mit den Entscheidungsprozessen der Politik nennenswert zu beschäftigen, oder sich tiefgehend in internationale Vertragswerke einzulesen und später angemessen zu recherchieren. Die meisten bekommen von Infoveranstaltungen nicht einmal was mit. Wenn direkte Demokratie diesen Zustand nennenswert auflösen würde, dann könnten wir dies an existierenden Beispielen beobachten. Tun wir aber nicht.

Naja, wenn ich merke, dass meine Stimme nicht zählt und ich auch nicht der Spezi und Profilneurotiker bin für eine Politikerkarriere, dann hab ich halt schlechte Chancen, dass mir meine politische Bildung überhaupt nutzt. Wieso sich plagen, wenn ich keinen direkten Einfluss nehmen kann? Das bringt mir letztlich den Verdruss, wenn die Abstimmung so läuft, wie ich es nicht vertretbar finde. Wenn es keine Anreize wie in der direkten Demokratie gibt, dann wird sich die Lage mit der politischen Allgemeinbildung wohl kaum verbessern.


(03.11.2016)Mc Timsy schrieb:  Ich wünschte ich könnte den Antiamerikanismus-Vorwurf als reinen Populismus abtun, aber ich habe leider schon mit genug Leuten geredet um zu wissen, dass der Vorwurf manchmal zutreffend ist.  FS sad
Ansonsten finde ich aber deinen Glauben an die Macht offener und ehrlicher Diskussionen sehr erfrischend. Ich bin da leider weniger von überzeugt. Das Brexit-Lager hat den Volksentscheid im wesentlichen durch das Verbreiten von Unwahrheiten gewonnen. Trump ohnehin alle Register und ein kurzer Blick in die Geschichte zeigt, dass es nicht offene, ehrliche Diskussionen sind, die dir deine Wahlen gewinnen. Sondern erschreckend häufig primitive Emotionen Einzug halten. Die Menschen erwarten normalerweise zwei sich gegenseitig ausschließende Dinge von der Politik. Nämlich die objektiv besten Entscheidungen zu treffen und gleichzeitig klar erkennbare Kanten zu haben, damit man auch echte Alternativen wählen kann. Man soll zu gemeinsamen Lösungen finden, aber dennoch zu einem eigenen Profil kommen. Naturgemäß führen diese Dinge zu einem politischen System, in dem die Politiker einen auf Unversöhnlich machen um in der Öffentlichkeit zu punkten und dann aber relativ flexibel und rational agieren können, sobald die Kameras draußen sind. Hinzu kommt auch hier die gezielte Manipulation der Massen. In Verhandlungen mit dem politischen Gegner ist ein dezenter Leak oder ein Versprechen auf Unnachgiebigkeit in den Verhandlungen ein gutes Mittel um den Druck auf den Verhandlungspartner zu erhöhen. Letzteres ist ja quasi auch eine Komplettbeschreibung des CSU-Verhaltens in Berlin. Pinkie happy

In der Schweiz und in Kalifornien sind ja keine Rechtsradikalen an der Macht oder ist mir was entgangen? Siehe: Ungarn (Fidesz), Polen (PIS), Frankreich (FN), Deutschland (AfD) und bald noch ein weiteres Erstarken der Schwedendemokraten, bei deren Umfragewerten. Anscheinend ist es ja gerade ziemlich einfach, die Leute mit rechter Politik zu mobilisieren. Die Bevölkerung ist durch das repräsentative System schon so entpolitisiert, dass sie so Leuten wie Trump und co. hinterherrennen. Was du als Abschreckung vor der direkten Demokratie hier anführst, ist für mich eher ein Symptom der rein repräsentativen Demokratien.

Zu dem Verbreiten von Unwahrheiten-Argument. Es ist halt leider so, dass Politik nicht von der Wahrheitssuche beseelt ist, sondern davon, dass ein Politiker gerne seinen Berufsstand behalten möchte. Daher hat Politik stets ein inhärent manipulatives Element. Ist mir wohl bekannt. Daher sehe ich mein Menschenbild als realistisch. Der Durchschnittbürger ist jedoch von diesem Manipulationsvorwurf befreit und kann daher in vielen Fällen eine objektivere Meinung vertreten, da von seinem Abstimmungsverhalten bspw. nicht sein Beruf abhängt.

(03.11.2016)Mc Timsy schrieb:  Letztendlich aber kann ein solches System Kompromisse und Ausgleichslösungen produzieren, die bei einer einfachen Volksbefragung nicht denkbar wären. Eine unterlegene Region kann versuchen eine Kompensation für die Niederlage auszuhandeln. Ansonsten, siehe Brexit, sitzen dann eben alle die Regionen mit einer Remain-Mehrheit ohne Kompensation und ohne Kompromissbereitschaft ihrer Gegner fest. Übertrage einfach auf jedes andere Politikfeld.

Das ganze ist nicht mal umgesetzt und bis auf Befürchtungen aus der Glaskugel gabs dazu noch nichts. Zudem scheint es ja jetzt noch eine Abstimmung im Parlament darüber zu geben. Wenn es dann so schlimm ist, sollen sie halt nochmal ein Referendum starten, der EU wieder beizutreten.

(03.11.2016)Mc Timsy schrieb:  Da kann, muss Militär aber keine Rolle spielen. Da geht es letztlich auch um Umweltschutz und Menschenrechte, Demokratisierungsprozesse und den Schutz der heimischen Wirtschaft vor Know-How Diebstahl.

Bei letzterem ist die USA aber ein denkbar schlechter Partner. Zumal unsere Sicherheitsdienste da auch noch bei der Wirtschaftsspionage unter die Arme greifen.

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04.11.2016
mowny Offline
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RE: "Freihandelsabkommen" TTIP
(04.11.2016)Beaumaris schrieb:  
Spoiler (Öffnen)
Was du als Abschreckung vor der direkten Demokratie hier anführst, ist für mich eher ein Symptom der rein repräsentativen Demokratien.

Zudem, haben die Rechtspopulisten in Ungarn nicht letztens eine Volksabstimmung verloren? Das zeigt doch, daß die direkte Demokratie nicht unbedingt populismusanfälliger sein muß.

[Bild: nazihorsefuckoff.png]
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04.11.2016
Mc Timsy Offline
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RE: "Freihandelsabkommen" TTIP
mowny schrieb:Zudem, haben die Rechtspopulisten in Ungarn nicht letztens eine Volksabstimmung verloren? Das zeigt doch, daß die direkte Demokratie nicht unbedingt populismusanfälliger sein muß.

Erkläre das mit der Niederlage aber bitte einmal der ungarischen Regierung. Die Volksabstimmung ist gezielt von der Opposition boykottiert worden, mit dem Ziel die ganze Geschichte an der notwendigen Beteiligungsquote scheitern zu lassen.
Viktor Orban nutzt aber die hohe Zahl an Zustimmungen zu seiner Linie innerhalb der Volksbefragung dazu, jetzt die entsprechende Politik in die Verfassung schreiben zu wollen. Dabei betont er hierbei immer wieder den angeblichen Volkswillen, der darin zum Ausdruck gekommen sei. Die technische Hürde, dass das Referendum eigentlich ungültig ist wird mit einem Verweis auf die Direktheit der Abstimmung einfach ignoriert.

@Beaumaris

Ich möchte eigentlich gerne wieder etwas wegkommen von dem Thema mit der direkten Demokratie. Wenn dir einzelne Punkte dazu noch wichtig sind, dann gib' mir bitte bescheid, damit ich nochmal darauf eingehen kann. Kann natürlich auch sein, dass du damit noch TTIP spezifisch auf etwas hinaus willst. Ansonsten kann ich erstmal nur sagen, dass die Untersuchungen von direktdemokratischen Elementen leider deine Thesen zu den gewünschten Wirkungen auf die Menschen nicht bestätigen. Siehe die Quelle und darauf aufbauend weitere Literatur.
Bezüglich der Rechtspopulisten nur so eine Sache: In der Schweiz sind die Rechtspopulisten eine der treibenden Kräfte in der Politik. Du brauchst in der Schweiz dafür nicht erst in eine Regierung zu kommen. Das ist es ja gerade worauf ich hinaus will. AfD, Front National etc. müssen für ihre Änderungen erstmal den Run durch die Institutionen veranstalten und können je nach Verfassungsstruktur dann eben auch nicht frei schalten und walten wie sie möchten. Eine Bedrohung für die liberale Demokratie sind sie in jedem Fall, aber die SVP braucht garkeine Regierungsebene zu erreichen. Da das Schweizer System weniger auf klassischer Gewaltenteilung, als vielmehr auf dem Machtspiel Regierung vs. Volk basiert, kann sie durch Volksinitiativen ihre Politik bereits jetzt durchsetzen. Dafür braucht man dann auch nur genügend Leute mit Vorurteilen aufzustacheln, dass die Abstimmung weitergehende Konsequenzen haben kann wird im Zweifel oftmals nicht einmal gesehen. Es ist von natur aus viel schwerer Menschen für eine Sache zu mobilisieren als dagegen, was mit der Komplexität des Themas nur noch schlimmer wird.
Aber ok, wir könnten diese Diskussion zum allgemeinen Thema direkte vs. repräsentative Demokratie vermutlich an anderer Stelle besser fortführen.


Zitat:Bei letzterem ist die USA aber ein denkbar schlechter Partner. Zumal unsere Sicherheitsdienste da auch noch bei der Wirtschaftsspionage unter die Arme greifen.

Du nimmst dir also einen Teil aus meiner Aufzählung von Themen der Sicherheitspolitik, mit der ich nur zeigen wollte, dass Sicherheitspolitik heutzutage nicht automatisch Aufrüstung bedeuten muss und gehst nicht auf den restlichen Teil ein.

Ich will mal im folgenden Abschnitt versuchen das Thema auf dem konkreten Beispiel Ceta zu belassen und so wenig Ablenkung von meinem Punkt wie möglich einzubauen.
Die Kanadier haben Ressourcen die wir in Europa gebrauchen können und es wäre von Vorteil, wenn wir diese Ressourcen kaufen oder investieren könnten, ohne übermäßige Hindernisse überwinden zu müssen. Ich hatte bereits das Beispiel Erdgas genannt, dessen Diversifizierung für Europa nicht nur wirtschaftlich essentiell, sondern für Osteuropa nicht weniger als eine Frage der nationalen Souveränität ist. Keiner von denen will gerne durchmachen, was die Ukraine durchmachen musste, als Russland sein Gas offensichlich als politische Waffe eingesetzt hat.
Allgemein wird Europa in der Zukunft eine aktive Rolle spielen müssen um sich ein angenehmes und sicheres Umfeld zu schaffen. Sowohl in der direkten Peripherie, als auch international, dazu gehört auch die Sicherung unserer wirtschaftlichen Stärke, weil von dieser abhängt, ob Europa in Ermangelung militärischer Ressourcen und diplomatischer Geschlossenheit überhaupt als Akteur wahrgenommen werden wird.
Die Zusammenarbeit mit den Nordamerikanern, in diesem Falle Kanada bietet hier einige Vorteile. Wie bei jeder Option sind damit auch Nachteile und Risiken verbunden, aber in meinen Augen ist dieses ganze Thema eigentlich mehr eine Ansammlung von technischen Fragen.
So wird die Debatte aber seit Anbeginn nicht geführt. Stattdessen werden alle möglichen Horrorszenarien an die Wand gemalt, wie eine verpflichtende Einführung von Fracking (welches nicht verboten ist und seit über zwei Jahren bereits in einigen Staaten Osteuropas und Großbritannien zur Anwendung kommt), Genfood (bei dem die Kanadier zugestimmt haben explizit genfreies Felisch für Europa herzustellen) und einer angeblichen Abschaffung der Demokratie durch Schiedsgerichte (die wissenschaftlich nicht nachweisbar ist und wo die Kanadier sich mit Europa auf eine Alternative verständigt haben welche die amerikanischen Lobbyverbände beispielsweise massiv ablehnen. So gesehen sehr witzig, weil Pro TTIP Wirtschaftsverbände aus den USA jetzt ebenso wie außerparlamentarische Aktivisten für eine Ablehnung von Ceta kämpfen. Pinkie happy ).
So, es gibt gute und schlechte Gründe gegen Ceta zu sein und man darf sie alle haben. Aber, die komplette Debatte ist seit Beginn völlig hysterisch. Da wird sich dann was vom Widerstandsrecht im Grundgesetz zusammenfabuliert und die komplette Idee schon völlig dämonisiert. Da herrscht eine Situation bei der sämtliche Diskussionen vollkommen unmöglich sind, weil die Menschen zu 99% keine Ahnung aber eine Meinung haben zu der sie prinzipiell stehen wollen.
Letztendlich, weis ich selbst beispielsweise auch nicht ob Ceta am Ende ein unvorteilhaftes Abkommen wird. Das weis keiner. Es gibt Sachen die mir da sauer aufstoßen und andere, wo ich die Sorgen der Öffentlichkeit für völlig unbegründet halte. Andere Freihandelsabkommen, beispielsweise mit Südkorea, klingen im Wortlaut auch nicht besser, manchmal sogar schlimmer, aber ein Ende der Demokratie haben sie nicht bedeutet. Wenn ich mich richtig erinnere geht dir das wirtschaftliche Argument auf die Nerven. Falls ja, willkommen im Club. Ich erwarte nicht, dass wir unglaublich reich werden mit diesem Vertrag. Aber ich sehe ihn als eine gelungene strategische Antwort auf die Entwicklungen in dieser Welt. Eine Kooperation von Europa und Nordamerika kann positive Effekte, auch über die Grenzen des "Westens" hinaus haben und kommt vermutlich als einzige Option ohne ein direktes Risiko militärischer Eskalation daher.
Über all solche Dinge rede ich persönlich viel lieber. Denn im Zweifel würde mich auch interessieren, welche Alternativen für eine transatlantische Zusammenarbeit mein Gegenüber hat. Welche Optionen er bevorzugt und wieso er diesen Weg für einfacher und besser hält, als den Weg eines Freihandelsabkommens mit Kanada. Aber darüber wird nicht geredet. Stattdessen werden die Kanadier oftmals behandelt, als wären sie die Streitkräfte der Haradrim im Auftrag des dunklen Herrschers von Mordor. Ich habe mir den Vertrag angesehen und ich sage offen, ich sehe in dem Vertragswerk keine grundsätzliche Bedrohung der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit. Eine Position, die oftmals nicht einmal mehr ernst genommen wird, weil die angebliche Demokratiefeindlichkeit dieses Vertragswerkes seit Jahren fester Bestandteil der Gegenpropaganda ist, dass diese Behauptung heutzutage grundsätzlich keiner Erklärung bedarf. Auf allen Seiten vermischt sich erntsgemeinte Sorge mit hysterischen Weltuntergangsszenarien und dann springen noch alle möglichen Utopisten hinein, die ihrerseits bei diesem Abkommen vollkommen überhöhte Forderungen stellen wollen, wahrscheinlich auch wissend, dass keine Absprache dieser Welt jemals derartige Standards erfüllen kann. Please, just calm down a little!

Den Wind können wir nicht bestimmen, aber die Segel richtig setzen.
- Lucius Annaeus Seneca -
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04.11.2016
Herr Dufte Offline
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RE: "Freihandelsabkommen" TTIP
So, ich bin ja noch ne Antwort schuldig:

(02.11.2016)Beaumaris schrieb:  
(02.11.2016)Herr Dufte schrieb:  Wirtschaftliche interessen sind auch in Interesse der Bürger. Und für die konsequenten hatte einfach gerne was konkretes, statt stumpfe Ablehnung. CETA schreibt z.b. klar vor das ausnahmslos alle EU Standards weiterhin erhalten bleiben müssen.

Spezifiziere "wirtschaftliche Interessen", weil der Ausdurck ist allgemein, diffus und nichtssagend. Und komm mir nicht mit vorhersagen, in denen Ökonomen in kurz in die Glaskugel geschaut haben und dann prophezeit haben: Arbeitsplätze, Arbeitsplätze, Arbeitsplätze!

Welche Punkte findest du denn in dem Abkommen explizit wünschenswert und wieso?

Hier ist das Abkommen übrigens in schriftform. Ich versuche mir gerade vorzustellen, wie die ganzen ohnehin schwer beschäftigten Politiker, Journalisten und Lobbyisten das kurz mal in einem Ruck gelesen und verstanden haben und sich eine unabhängige Meinung dazu gebildet haben. RD laugh
Wirtschaftliche Interessen kam nicht von mir. Ich habe lediglich zur allgemeinen Kritik (Bürger werden ignoriert, nur Wirtschaft gefördert) angemerkt, dass eine starke Wirtschaft auch im Interesse der Bürger ist. Ganz allgemein, nicht CETA bezogen.

Explizit wünschenswert:
- Erweiterung des Handelsraums
- Integration im Welthandel
- Stärkung der Beziehungen zu Kanada
- Stimmrecht zur Bestimmung der Regeln im Welthandel
Ich halte die Isolation einfach für einen Schritt in die falsche Richtung (Und kein Schritt ist bekanntlich ein Rückschritt). Globalisierung lässt sich nicht aufhalten, wenn wir uns weigern werden andere die Initiative ergreifen. Aktuell ist Europa ein wichtiger Handelspartner weltweit, wodurch wir eine entsprechend gute Verhandlungsposition haben. Wenn solche Abkommen allerdings scheitern, zeigen wir uns als Handlungsunfähig. In diesem Fall befürchte ich, dass Europa langfristig seine Position im Wirtschaftraum verliert, und damit auch seine Möglichkeiten auf das Weltgeschehen Einfluss zu nehmen. Ansonsten würde ich dem was Mc Timsy schreibt zustimmen. Und ja, natürlich hat CETA auch Kritikwürdige Punkte, aber die allgemeine Idee und Richtung finde ich gut und sinnvoll. Die Horrorszenarien wiederum etwas aus der Luft gegriffen.

Und ja du hast Recht, die Abgeordneten lesen auch nicht alle alles durch und verstehen auch nicht jedes kleinste Detail. Aber die Parteien organisieren sich entsprechend und habe Wirtschafts- und Rechtsexperten, welche die kleinsten Details aufarbeiten. In der Regel wird es in der Partei Spezialistenteams geben die sich zusammensetzen und einzelne Themen intensiv diskutieren, um anschließend eine Wahlempfehlung für den Rest der Partei zu geben. Jeder Abgeordnete hat anschließend natürlich nach eigenem Gewissen zu stimmen, wird sich aber meist wohl der Wahlempfehlung nachgehen. Andere Bürger haben meist nicht die Ressourcen und Zeit sich entsprechend zu organisieren, um sich eine Meinung darüber zu bilden.

Auf den Rest ist Mc Timsy eigentlich ganz gut eingegangen.

Ich habe ja das Gefühl TTIP, CETA etc. sind auch eine Art "Stellvertreter Kriege". Nationalismus gegen Globalisierung. Alles was mehr globalisert wird verteufelt. Ich sehe da entsprechend auch die Gefahr die ein Scheitern von CETA etc. für Europa bedeutet. Gegner fühlen sich bestärkt darin wieder zu nationalisieren und Europa aufzulösen. Europa wird da ja gerne als Sündenbock hingehalten (die da in Brüssel sind schuld!!). Eine Richtung in Nationalisierung will ich aber auf keinen Fall gehen. 

„We need women and gender fluid characters in video games in order to trigger the incels. Ayy Lmaooo."
~ Karl Marx, ca. 1850
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