RipVanWinkle schrieb:Was gegen den Brexit spricht musst du mir btw. eigentlich nicht erklären
Du bist allerdings nicht die einzige Person, die die Antwort im Zweifel liest.
Verzeih mir bitte, falls du das Gefühl hast ich ordne dich einer Gruppe zu in die du nicht gehörst, aber ich folge da hauptsächlich der Argumentation.
Ansonsten, zum Thema Brexit und warum die Briten die EU verlassen wollten habe ich ein etwas spezielleres Verhältnis. Wie der Zufall es nunmal so wollte, war meine allererste Hausarbeit in meiner Studienkarriere eine Analyse der Europäisierungsprozesse im Westminster-System. Die Arbeit selbst war nicht allzu gut, wie man von einer ersten Hausarbeit im Studium wohl erwarten kann, aber bei der Recherche bin ich damals zu einem Eindruck gekommen.
Wenn nur ein Land in der Geschichte der Menschheit jemals die Union verlässt, dann wird es Großbritannien sein und wenn mehrere Länder austreten (damals war die Griechenlandkrise auf einem Höhepunkt), dann wird GB als erstes gehen.
Warum? Ich würde es einfach als fundamentales Missverständnis und Skruppelosigkeit einzelner Akteure bezeichnen.
Es ist normal, dass nationale Regierungen gegen die EU oder andere europäische Staaten verbal mobil machen. Am Ende sind dann trotzdem alle gezwungen irgendwie zusammen zu kommen, das Blaming der europäischen Institutionen gehört dahingehend ein bisschen zum Spiel dazu. Das ist nicht gut, aber wie geschrieben, in gewissen Rahmen normal.
In Großbritannien allerdings wurde seit dem Beitritt medial ein derart irrationales Dauerfeuer auf die EU gestartet, dass man dort keine normale Meinungsbildung der Bevölkerung mehr erwarten konnte. Der Narrativ war über Jahrzehnte, dass die EU die Briten unterdrückt. Das die Union nichts richtig machen kann und das die EU tyrannisch über allem steht und insbesondere Großbritannien keinerlei Einfluss hätte.
Ich werde jetzt nicht darauf eingehen wie unglaublich falsch diese Einschätzung war, aber sie erzeugte ein Umfeld, indem ich vor sieben Jahren bereits zu dem Schluss gekommen war, dass es unmöglich wäre in Großbritannien einen positiven EU-impuls zu geben, ohne mindestens als Paria zu enden, vielleicht aber auch die eigene Gesundheit wegen Extremisten aufs Spiel zu setzen. Wenn die Frage gestellt werden würde, so meine damalige Einschätzung, dann wäre es nicht möglich den Briten überhaupt Vorteile der Mitgliedschaft zu nennen. Oder positive Entwicklungsmöglichkeiten. Eine Volksabstimmung in Großbritannien wäre für die Befürworter einer Mitgliedschaft nicht zu gewinnen.
In einigen Punkten lag ich bei meiner Einschätzung falsch. Ich hatte die Wahlbeteiligungen einiger Regionen falsch eingeschätzt, ebenso wenig lag ich korrekt damit, dass die Mehrheit für den Austritt so klein und so spezifisch mit der damaligen demographischen Gegebenheiten korrellieren würde, da ich mich damit aber auch in der damaligen Hausarbeit nicht beschäftigt hatte.
Aber die Annahme, dass die "Remainers", wie sie später genannt wurden, kaum in der Lage wären positive Beiträge in der Debatte zu etablieren und eine Pro-EU Haltung potentiell gefährlich werden könnte hatte sich leider als wahr erwiesen. Ich war damals nicht einmal geschockt als das Ergebnis ankam, weil ich eigentlich damit gerechnet hatte. Nur die Hoffnung starb zuletzt.
Das Problem verbleibt, dass vielen briten über Jahrzehnte nicht weniger als eine Feindschaft zur EU vermittelt wurde. Gleichzeitig hatte Großbritannien von Anfang an die Intention Europas phänomenal missverstanden. Man hielt den Europäischen Binnenmarkt für die tragende Komponente und betrachtete das "Friedensprojekt" als Folklore der Kontinentaleuropäer. Daher auch die Fehleinschätzung, die europäischen Staaten würden sich, um ihren Handel mit GB nicht zu gefährden, aktiv für britische Interessen einsetzen. Statt aber die eigene Fehlkalkulation anzuerkennen, wird man bei den Brexiteers wütend und sieht sich als Opfer, ein Exempel, welches Europa etablieren wolle. Der Feindschafts-Narrativ sitzt tief.
Für mich als entschiedenem Pro-Europäer ist es sehr seltsam die britische Debatte mitzuverfolgen. Die Probleme die der EU angedichtet werden haben oftmals nichts mit der EU zu tun, sind frei erfunden, oder werden völlig aus den Zusammenhängen heraus betrachtet. Dabei gäbe es sehr interessante Debatten darüber zu führen, wo sich die EU aktuell hinbewegt. Da läuft nicht alles rund und ich würde mich freuen wenn die Debatten mal tatsächlich dazu übergehen würden, wie sich Europa denn tatsächlich entwickelt und ob dieser Weg tatsächlich gut ist. Stattdessen jagen die Brexiteers wahlweise Einhörner oder Gespenster.
Beispiel gefällig? Die Eu verhindere Migrationskontrolle aus den EU Staaten und zwinge Großbritannien Europäer aufzunehmen, voll in die Sozialsysteme zu integrieren und fördere damit die Probleme der nationalen Versorgungssysteme. Tatsächlich ist davon fast nichts korrekt. Die EU erlaubt Staaten trotz Freizügigkeit die Rückführung von EU-Bürgern, die keinen Job finden und daher nicht in die Sozialsysteme einzahlen. Sie erlaubt außerdem die Sozialleistungen für diese Leute temporär zu reduzieren, bis sich die Betroffenen genügend Ansprüche erarbeitet haben. Großbritannien wählte selber eine laxere Gangart um seinen Bedarf an Pflegekräften und Erntehelfern zu decken. Wobei auch festzuhalten ist, dass die Immigration in Großbritannien keinen zusätzlichen Druck auf die Sozialsysteme bedeutete, da die Immigranten wesentlich mehr einzahlen als sie aus dem System entnehmen. Für die dortigen Sozialsysteme ist die Zuwanderung ein Netto-Gewinn. Man bekämpft ein Problem das nicht existiert und zwingt damit gleichzeitig die Debatte in eine Richtung, die nur daraus besteht die selben falschen Aussagen, wieder und wieder zu widerlegen.
Gleichzeitig hat die Finanzkrise zu einer Schwächung der demokratischen Strukturen in Europa geführt, da die Regierungen die Verträge der Union nicht mehr anpassen konnten. Von den vergangenen Volksentscheiden wissen alle nämlich, dass die Bevölkerung nicht wirklich über Verträge abstimmt, sondern diese Situationen für Proteste gegen die eigene Regierung nutzt. Da eine Reform Europas in den letzten 10 Jahren nicht mehr nennenswert möglich war sind die Staaten dazu über gegangen alles auf zwischenstaatlicher Vertragsbasis zu machen. Eine Methode, die sowohl die Kontrollmechanismen der Union, wie Kommission und Parlament teilweise umgeht, als auch den Einfluss heimischer Parlamente und Gerichte auf ihre Regierungen reduziert. Die Regierungen haben sich in den vergangenen jahren mehr und mehr Macht gesichert und konnten damit sämtliche etablierten Kanäle der Gewaltenteilung unterlaufen. Über dieses tatsächlich im Moment existierende Problem der Gewaltenteilung und Verantwortlichkeit der Regierungen redet aber niemand. Nicht weil das Problem nicht wichtig wäre, sondern weil die meisten damit beschäftigt sind sich über vermeintliche Gurkenkrümmungen aufzuregen. Die nationalen Regierungen hatten es dann leicht, weil sie einfach selber den heimischen Nationalismus befeuern und die Anti-Establishement Rethorik gegen die EU richten mussten. Was ja auch prima funktioniert. Im Falle des Brexit ein wenig zu gut, aber was wollte man auch erwarten. Cameron hatte über Jahre massiv gegen die EU gewettert und wollte dann plötzlich für Remain werben. Das konnte von Beginn an nicht glaubwürdig gelingen.
Ich könnte ja sogar verstehen, wenn man zu dem Schluss kommt, dass die EU insgesamt schädlich für die Demokratie wäre, eben weil sie den nationalen Regierungen erlaubt Verantwortung von sich weg zu schieben. Es gibt auch genug andere Probleme, bei denen ich Frustration und sogar Feindseeligkeit zur EU absolut nachvollziehbar finde. Nur blöderweise sind diese Probleme buchstäblich nirgendwo ein Thema. Sondern meistens rassistische Neiddebatten, bei denen ich beim besten Willen noch keine Ahnung habe, wie man sie irgendwie in eine sinnvolle Richtung lenken soll.